Im Schatten von Notre Dame
Hugos Hemd und seine Decke.
Ich lief weiter, zu Bruder Poitevins Kammer – und kam zu spät. Eine Gestalt beugte sich über das Bett und zog den blutigen Dolch aus Poitevins Brust. In der Linken hielt der Angreifer einen kleinen Kasten, Poitevins Teil des Plans.
Der Eindringling hatte mich gehört und fuhr zu mir herum. Erregung und Entschlossenheit zeichneten sein hageres Antlitz, in seinen Augen lag ein fiebriger Glanz. »Schön, daß Ihr zu mir kommt, Bruder Amiel-Aicart, das erspart mir einen Weg.«
»Udaut!« stieß ich entsetzt hervor, und mein »Warum?« erstickte in einem kläglichen Krächzen. Meine Kehle war zugeschnürt, mein Herz wollte zerspringen, und meine Glieder schienen von Schüttelfrost befallen.
Ich brauchte die Frage nicht zu stellen, die Antwort lag auf der Hand.
Bischof Bertrand hatte sich geirrt, als er die vier vertrauenswürdigsten Vollkommenen auswählte. Einer war weder vertrauenswürdig noch ein Vollkommener im Sinne der Wahrhaft Reinen. Bruder Udaut war ein Verräter, ein Dragowit. Er hatte unsere Flucht unterstützt, damit der Sonnenstein nicht in die Hände der Belagerer fiel. Aber natürlich wollte er das Geheimnis an sich bringen, in seine Hände, in die der Dragowiten – der bösen Macht!
»Euer Weg endet hier, Bruder Amiel-Aicart«, flüsterte Udaut.
»Der Eure auch!« erwiderte ich, mehr trotzig als mutig. »Ihr werdet nicht weit kommen. Bruder Matheus wird Euch jagen, Euch aufhalten.«
Udaut lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich habe Helfer hier in der Burg, die Pferde stehen schon bereit.«
Er sprang auf mich zu, den bluttriefenden Dolch zum tödlichen Stoß erhoben. Aber er hatte sich zu schnell von Bruder Poitevin abgewandt, der noch nicht tot war. Jetzt torkelte er aus dem Bett, umklammerte Udaut und riß ihn mit sich zu Boden. Im Bauch des Verräters steckte sein eigener Dolch.
Ich wollte schon aufatmen und mich um Poitevin kümmern, da schüttelte Udaut ihn von sich, erhob sich stöhnend und schrie Namen, die ich nicht kannte, unzweifelhaft die seiner Helfer. Ich wußte nicht, wer und wie viele sie waren. Aber wenn sie meiner habhaft wurden, hatten sie auch den Sonnenstein und den Plan der Weltmaschine – das ganze Geheimnis. Bischof Bertrands mahnende Stimme hallte in mir wider: Verhütet, daß alle vier Gaben den Dragowiten anheim fallen.
Wenigstens einer von euch muß ihnen entkommen!
Ich rannte zurück in meine Kammer, riß das Kästchen mit dem Smaragd an mich und floh durch die Gänge der mir unbekannten Burg, ängstlich darauf bedacht, Udauts Helfern nicht zu begegnen. Irgendwann stand ich im Freien, vor mir ein kleines Seitentor, das aus der Burg führte. Nur kurz dachte ich daran, Bruder Matheus um Hilfe zu bitten. Was, wenn auch er ein Verräter war oder wenn ich durch die Verzögerung doch den Dragowiten in die Hände fiel?
Das Tor war schnell entriegelt, und ich floh in die finstere Nacht, durch unbekanntes Gelände. Ranken und Farne brachten mich mehrmals zu Fall. Einmal, als ich mich gerade wieder aufraffen wollte, hör-te ich Stimmen und Hufgeklapper. Die Geräusche wurden lauter, deutlicher.
»Wo steckt dieser verfluchte Amiel-Aicart bloß?« – »Hier, ein abge-knickter Ast. Er kann nicht weit sein!« – »Reiten wir langsam und in gerader Reihe, dann wird es uns am ehesten gelingen, ihn aufzuspü-
ren.«
Ich hörte das regelmäßige Trappeln der langsam näher kommenden Pferde. Schon zeichneten sich die Konturen meiner Häscher zwischen den alten Ulmen ab. An den Boden gepresst, lag ich da und verging fast vor Angst. Nicht vor Angst um mein Leben, dessen Ende irgendwann kommen mußte und meine Seele nur einen Schritt weiterbrin-gen würde auf ihrer Suche nach Erlösung. Nein, ich ängstigte mich um alle Seelen, die verloren waren, wenn die Dragowiten mich ergriffen.
Meine Furcht war so groß, daß Schwindel mich packte und in den wilden Tanz riß, den die Baumkronen hoch über mir aufführten. Mir war, als sei ich ein Vogel, der über dem Wald schwebte, über dem Land, über der Welt. Ein Sturmwind packte den Vogel und schleuderte ihn Mond und Sternen entgegen, durch Raum und durch Zeit …
Kapitel 5
Weiß gegen Schwarz
Die Lichtpunkte, die vor meinen Augen tanzten, waren nicht die Gestirne, sondern die Auswirkungen des Kaminfeuers auf meine sich zitternd öffnenden Lider. Lang ausgestreckt lag ich auf dem Bett in der unterirdischen Zelle und sah dicht vor mir die Fratze des Geistermönchs, fragend, besorgt. Schweiß perlte
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