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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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geltenden Tempel. Seitdem ziehen die Hü-
    ter des entweihten Heiligtums durch die Lande, um ihren Schatz zu-rückzuholen, verkleidet als die ärmsten Zigeuner, die man sich vorstellen kann. Mit Zähigkeit, List und Tücke – sie erschlichen sich sogar päpstliche Schutzbriefe – verfolgten sie die Spur des Sonnensteins.
    Im Jahre 1419 gelangten sie nach Frankreich und konnten ihre Pläne in dem kriegsgebeutelten Land weitgehend ungehindert verfolgen. Wer kümmerte sich schon um ein paar arme Zigeuner, als Engländer gegen Franzosen und Franzosen gegen Burgunder kämpften! Acht Jahre spä-
    ter zogen die Ägypter in das von den Goddams besetzte Paris ein. Ein Herzog, ein Graf und zehn sogenannte Ritter mit ihrem achtzigköpfigen Gefolge. Man stellte sie in Saint-Denis unter die Aufsicht der toten Könige und vertrieb sie schließlich aus der Stadt.«
    »Vermutlich suchten die Engländer in Paris auch den Stein aus Luzifers Krone«, meinte ich ein wenig säuerlich und nicht ganz ernst.
    Der Geistermönch nickte mit vollkommen ernsthafter Miene. »Das vermuteten die Wahrhaft Reinen auch; deshalb taten sie alles, um Paris wieder in französische Hände zu bringen. Durch die englische Be-satzung und die Ankunft der Ägypter wurde die Suche nach dem Stein behindert. Leider scheiterte der Angriff der Jungfrau anno 1429, und Paris blieb sieben weitere Jahre in den Händen der Goddams.«
    »Nun wollt Ihr mir weismachen, auch Jeanne die Jungfrau sei eine von euch Reinen gewesen?«
    »In gewisser Weise, ja, aber eher ein Werkzeug, das Schwert in unserer Faust. Sie war ein armes, unwissendes Bauernmädchen, das durch die Stimmen in seinem Kopf wirr zu werden drohte. Wir verliehen ihrem nutzlosen Dasein einen Sinn und gaben ihr ein, daß Gott zu ihr spreche. Vom Glauben an ihre göttliche Mission beseelt, hätte die Jungfrau es beinahe vermocht, die Goddams zu vertreiben. Aber der Verrat der Dragowiten brachte die Ärmste in die Gefangenschaft und schließlich auf den Scheiterhaufen, so wie Verrat auch das Ende ihres Waffenbruders, des Marschalls von Frankreich, besiegelte.«
    »Ihr sprecht von Gil es de Rais?« erkundigte ich mich mit Schaudern.
    Der Marschall von Frankreich, gewiß ein Held im Krieg gegen die Engländer und Burgunder, war im Oktober 1440 in Nantes hingerichtet worden. Niemand hielt die Strafe für unverdient, hatte Gilles doch gestanden, weit mehr als hundert Kinder auf grausame Weise getö-
    tet zu haben, um Satan zu gefallen. Viele seiner Opfer hatte er missbraucht, während er ihnen das Leben nahm, einige noch danach. Die Verliese seiner Schlösser fand man voller Knochenreste und Asche verbrannter Leiber. Ich kannte die Geschichte gut, in Sablé erzählte man sie heute noch jedem Kind, denn Gilles de Rais befehligte von 1427 bis 1429 die örtliche Garnison.
    »Sire de Rais wurde ein Opfer der Dragowiten«, erklärte der Geistermönch, als habe er meine Gedanken gelesen. »Nachdem sie Jeanne ge-tötet hatten, brachten sie ihn um Ansehen und Würden. Sein Geist verwirrte sich. Mag sein, er hat zuviel von dem Mandragorasaft gekostet, den er der Jungfrau zu verabreichen hatte.«
    »Warum das?« warf ich ein.
    »Die Mandragora verändert den Verstand, macht ihn empfänglich für tatsächliche oder auch nur eingebildetete Beeinflussungen.«
    »Wenn auch Gilles de Rais den Saft zu sich nahm, hat er seine Untaten wohl im Wahn begangen.«
    »Untaten? Unsinn, es war ein Komplott! Der Herzog der Bretagne und sein Kanzler, Bischof Jean de Malestroit, die beiden teuflischen Dragowiten, haben Gilles de Rais um Ansehen und Leben gebracht –
    und um sein Vermögen, das sie an sich rissen.«
    Ich sah das Schachspiel an und sagte leise: »Ihr erklärt Weiß zu Schwarz und Schwarz zu Weiß, ganz nach Eurem Belieben, und die Wahrheit löst sich auf in Gerüchten und Geschwätz.«
    »Es gibt nicht die Wahrheit, sondern nur die richtige Sicht der Dinge! Und die habe ich Euch zu vermitteln versucht. Ihr werdet es erkennen, wenn Ihr nach Notre-Dame zurückkehrt und Euch gründlicher mit Dom Frollo befasst.«
    Ich hatte einen schlechten Geschmack im Mund und spie aus. »Was für einen Grund sollte ich haben, nach Notre-Dame zurückzugehen?«
    »Ist die Rettung der Welt, die Erlösung der Seelen, nicht Grund genug?«
    »Verlasst Eure Höhlenwelt und erzählt das dem Profos oder dem Bischof.
    Der Scheiterhaufen würde Euren verwirrten Geist schnell erleuchten!«
    »Das ist so ziemlich die einzige Tortur, der man mich noch nicht

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