Im Schatten von Notre Dame
erwartete uns am steilen Nordhang eine Handvoll Männer in Rüstung und Waffen, angeführt von Pierre Roger de Mirepoix, dem Komman-danten der Festung.
Düster und stumm erhob sich in unserem Rücken die Burg der letzten Hoffnung. Für einen Augenblick wunderte ich mich, nicht das be-ständige Trommeln des steinernen Regens zu hören, der Leben und Mut der Belagerten zerschlug. Dann erinnerte ich mich an den fünf-zehntägigen Waffenstillstand, den der Kommandant mit dem Seneschall von Carcassone ausgehandelt hatte. De Mirepoix hatte Geiseln gestellt und erwirkt, daß alle Belagerten, die dem katharischen Glauben abschworen, ihr Leben behalten sollten. Fünfzehn Tage brauchten sie, so hatte er dem Seneschall erklärt, um ihre Seelen zu läutern und sich darüber klar zu werden, ob sie als Christen leben oder als Ketzer sterben wollten. Doch in Wahrheit hatten wir der Zeit bedurft, um einen alten, halbverschütteten Fluchtgang freizulegen, den die Verräter nicht kannten.
Bei Tagesanbruch lief die Frist aus, und deshalb ließ man Bruder Hugo, Bruder Poitevin, Bruder Udaut und mich an Seilen in die Tiefe. Scharfe Klippenvorsprünge rissen Fetzen aus unseren Kleidern und aus unserem Fleisch. Endlich landeten wir auf einem kleinen Felsvor-sprung, und die Soldaten ließen die Seile zu uns herabfallen; wir konnten sie wohl noch gut gebrauchen. Jetzt waren wir vier allein mit der göttlichen Macht, die, in den falschen Händen, zur Macht Satans wurde.In einer Felshöhle versteckten wir uns für den Tag. Als der weite Himmel über dem Berg einen blassrosa Farbton in sein nächtliches Schwarzblau mischte, hörten wir über uns Rufe und Flüche, Weinen und Geschrei. Wir sahen den langen Zug der Geschlagenen aus der Festung ziehen, eine Kette von schemenhaften, dunklen Umrissen, die vor dem heller und heller werdenden Himmel ins Tal wanderte. Allen voran gingen, wir konnten es nur ahnen, Bischof Bertrand de Marty, sein Filius maior Gervais und Pierre Roger de Mirepoix.
»Der Vater der Guten Seelen sei mit ihnen!« sagte Bruder Hugo im Flüsterton, als könnten uns die feindlichen Soldaten tief drunten im Tal hören.
»Er wird mit ihnen sein wie auch mit uns!« erwiderte zuversichtlich Bruder Udaut, der uns in den folgenden Tagen und Nächten durch seinen unerschütterlichen Mut ein gutes Beispiel geben sollte.
Später sahen wir am Fuße des Berges die Flammen, aus denen sich eine dicke, schwarze Rauchsäule erhob. Der Rauch umspielte den alten Montségur wie zum Abschied, bevor er sich in den unruhigen Höhen-winden auflöste. Wir hofften, der Wind möge die Seelen in den göttlichen Himmel tragen, ihrer Erlösung entgegen. Mehr als zweihundert Brüder und Schwestern hatten sich geweigert, ihrem Glauben abzu-schwören, und waren singend in die flammende Glut des Scheiterhaufens gesprungen, allen voran der Bischof, sein Filius maior und der Kommandant. Dies war das Ende von Montségur, und nur wir vier waren übrig, die Hüter der göttlichen Macht.
Soldaten durchsuchten die Festung bis in den letzten Winkel nach dem Geheimnis, das wir bei uns trugen. Wir warteten bis zur Nacht und machten uns an den schwierigen Abstieg durch den notdürftig freigeräumten Felsgang. Mehrmals benötigten wir die Seile, um nahezu unpassierbare Strecken zu überwinden. Die Nacht und den nächsten Tag verbrachten wir in einer Berghöhle, und erst in der folgenden Nacht gelang es uns, erschöpft und am ganzen Leib zerschunden, den Montségur zu verlassen.
Im Wald von Basqui trafen wir den ersten Bruder, der uns leiten sollte, Bérenger de Lavelanet. Er brachte uns nach Montaillou, das schon immer ein Unterschlupf der Verfolgten gewesen war. Von dort ging es ins Audetal, zur Burg von Usson, wo uns der Bruder Matheus bekö-
stigte. Wir schliefen endlich wieder in richtigen Betten, mit gefüllten Bäuchen und in der Hoffnung, das Schlimmste überstanden zu haben, wenn auch noch ein großer Teil des Wegs vor uns lag. Jeder unserer Helfer nannte uns den nächsten, und keiner schien den ganzen Weg zum neuen Versteck des Sonnensteins zu kennen.
Trotz dieser Ungewissheit schlief ich gut in den Mauern von Usson. Bis mich etwas weckte: Lärm und ein kurzer, schnell ersterbender Schrei. Er kam von links, wo sich die Kammern von Hugo und Poitevin befanden.
Hugo lag in seinem Bett, doch er hatte die Glieder in unnatürlicher Haltung von sich gestreckt, in der Brust eine klaffende Wunde.
Blut sprudelte hervor wie aus einer munteren Quelle, benetzte
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