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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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Geistermönch davon und fügte hinzu: »Leider hat Gringoire nicht aufgezeichnet, wo sich das Verlies des Wahnsinnigen befand.«
    »In der Conciergerie«, sagte der Geistermönch.
    Colette wandte ihm ihr tränenüberströmtes Gesicht zu. »Dort hält man Vater gefangen? Wir müssen ihn befreien, sofort!«
    »So schnell wie möglich, aber nicht überstürzt. Ich werde alles in die Wege leiten. Geh dich waschen, und ruh dich ein wenig aus, Colette, es wird dir helfen.«
    Gehorsam, wenn auch zögernd, zog sie sich zurück. Nur unwillig ließ ich sie gehen. Ihre Berührungen und ihre Wärme hatten mir gut getan. Ich wünschte, sie länger in meinen Armen zu halten und sie zu liebkosen. Colette schien Liebe und Zuneigung zu versprechen, viel mehr als die stürmische, aber bloße Leidenschaft, die ich in Etiennettes Armen genossen hatte.
    »Wie ich sehe, seid Ihr endlich bereit, uns zu helfen«, sagte der Geistermönch.
    Ich versuchte, nicht weiter an Colette zu denken. Mein Gegenüber war ein schlauer Fuchs, er wollte meine versöhnliche Stimmung ausnutzen. Daher erwiderte ich schroff: »Wenn Ihr nun wisst, wo Colettes Vater sich aufhält, habe ich Euch bereits geholfen. Wozu sollte ich mich der Gefahr aussetzen, nach Notre-Dame zurückzukehren?«
    »Tut es für Euch selbst, für Eure Seele! Und vielleicht auch für mich.«
    »Für Euch? Ich kenne nicht einmal Euren Namen. Wer seid Ihr, daß Ihr so etwas von mir verlangt?«
    Der Geistermönch blickte mich traurig an und sprach: »Ihr seht Euch dem Mann gegenüber, der sich am meisten an Euch versündigt hat. Ich bin Euer Vater, Armand.«

Kapitel 6
    Die Denkmaschine
    Ich saß auf der Bettkante und starrte ihn an, stumm und unbewegt – äußerlich. In mir aber tobte ein gewaltiger Sturm, zerrte an meinen Eingeweiden, wirbelte meine Gefühle durcheinander, peitschte mein Blut in heiße Wallungen und ließ es im nächsten Augenblick, wie unter einem eisigen Winterwind, gefrieren. Nie zuvor hatte ich so viele widerstreitende Empfindungen gehabt, und zugleich fühlte ich mich ausgehöhlt, leer, saß da wie gelähmt, als laste ein schwerer Fels-block auf mir, der mir jegliche Bewegung versagte und das Leben aus meinem Leib preßte. Was sollte ich auch sagen, was tun?
    Erst wollte der Geistermönch mir meinen Gott nehmen und mir ein-reden, die Welt mit Baum und Strauch, mit Tier und Mensch sei von Satan erschaffen. Und jetzt zerstörte er alles, was ich mir über meinen Vater zurechtgelegt hatte. Daß er ein edler, aber verstoßener und verfolgter Prinz sei und sich seinem Sohn nicht offenbaren könne, weil er mich nicht in Gefahr bringen wolle. Daß er ein Weiser sei, auf der Suche nach dem Pfad der Erkenntnis, von dem ihn Weib und Kind nur abgebracht hätten. Daß er ein reicher Kauffahrer sei, ein neuer Jacques Coeur, beständig mit seiner Flotte kostbar beladener Schiffe unterwegs zu fernen Küsten. Und jetzt wollte diese hässliche, unterirdische Kreatur all das – Ehre, Weisheit und Reichtum – zerstören, maßte sich an, mein Vater zu sein!
    Mit einem wutgellenden Aufschrei löste ich mich aus der Erstarrung, stieß mich vom Bettkasten ab und sprang den Geistermönch an. Gleich einem Raubtier, das seine Brut verteidigt, war ich bereit, den Mann zu fällen und zu zerfleischen. Aber er war gewandt, in der Bewegung wie im Lügen. Nur ein kleiner Schritt zur Seite, und mein Sprung ging ins Leere. Ich stolperte über den Schemel, auf dem ich anfangs gesessen hatte, und landete bäuchlings auf dem harten, kalten Boden. Dort lag ich wie ein Bauerntölpel, der zu ungeschickt war, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Vor Wut und Verzweiflung hät-te ich heulen mögen, aber den Triumph gönnte ich meinem Peiniger nicht.
    Er stand über mir und sah mich mitleidig an. »Ich verstehe, was Euch bewegt, Armand. Dies ist sicher nicht der beste Augenblick, den Sohn mit dem Vater zu vereinen. Aber es schien mir notwendig.«
    »Ihr versteht, was mich bewegt?« fragte ich und erhob mich schwankend. Mir war, als zittere der Boden unter meinen Füßen; in Wahrheit waren es meine Glieder. »Habt Ihr, Vater, jemals Anteil genommen an dem, was mich bewegt? Oder war es Euch gleichgültig, weil Ihr gar nicht mein Vater seid? Wenn Ihr ein Mönch seid, wie könnt Ihr dann Kinder zeugen?«
    »Das können alle Mönche, die meisten tun es, und viele sind darin sogar sehr fleißig. Ich habe mich nie einen Mönch genannt. Meine Verantwortung ist viel größer als die eines einfachen Klosterbruders,

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