Im Schatten von Notre Dame
ausgesetzt hat.« Seine Narben bestätigten seine Worte, und auf einmal empfand ich Mitleid. »Armand, wenn Ihr es nicht für die Welt tun wollt, dann tut es für Colette, der Ihr viel zu verdanken habt!«
»Ich bin ihr dankbar für ihre Pflege, aber ist das Grund genug, den Einsatz meines Lebens zu verlangen?«
Kaum hatte ich das gesagt, kam ich mir schäbig vor, wie ein feiger Wurm, der sich vor dem hungrigen Raben versteckt. So würde ich die hübsche Colette gewiß nicht für mich einnehmen.
»Ohne Colette wärt Ihr längst nicht mehr am Leben. Sie war Euer Schutzengel, seit Ihr Notre-Dame betreten habt.«
Der Geistermönch zog etwas hervor, einen Lappen. Nein, es waren Haare, ein Bart. Als er ihn vor Colettes Gesicht hielt, erkannte ich den Bettler Colin, nur jünger, ohne die zahlreichen Scharten. Wie so oft in den vergangenen Wochen stand ich da wie ein Narr. Wie ein dummes Kind, dem man die Wahrheit nur häpchenweise auftischt, um es nicht zu überfordern. Oder um es nicht zu erzürnen, weil man es noch benö-
tigt. Der Geistermönch, Dom Frollo, der Italiener Leonardo, selbst Colette – sie alle spielten mit mir, schoben und zogen mich hin und her, wie es ihnen beliebte.
»Das dürfte der Bart sein, den ich am Ort des Überfalls fand, als ich einen Bettler verfolgte und eine Frau schreien hörte«, stieß ich mißmutig hervor. »Colette nahm ihn wohl wieder an sich, als sie bei der Dik-ken Margot scheinbar zufällig auf mich fiel.«
Colette lächelte mich an, aber ihre Gesichtszüge wirkten angespannt.
»Ihr seid sehr klug, Monsieur Armand.«
»Nein, ich bin ein Trottel, ein unsäglicher Narr!« blaffte ich. »Sonst hätte ich die Maskerade längst durchschaut!«
»Colette verfügt über viele Talente«, sagte der Geistermönch be-schwichtigend. »Sie kann sich verstellen wie eine Schauspielerin, und als Taschendiebin ist sie geschickter als so mancher, der in den Stra-
ßen von Paris mit dieser zwielichtigen Kunstfertigkeit seinen Lebens-unterhalt verdient.«
»Schön für sie«, brummte ich, fest entschlossen, in der Ablehnung, die meinem verletzten Stolz entsprang, nicht schwankend zu werden.
»Seid brastig auf mich, Armand, aber nicht auf Colette. Wie ich bereits sagte, ohne sie wärt Ihr schon am Dreikönigsmorgen arm dran gewesen, als …«
»Das war ich in der Tat«, fiel ich dem Geistermönch in die Rede. »Als ich morgens vor Notre-Dame erwachte, war Colin – oder Colette – fort und meine Geldkatze so leer wie mein Magen.«
»Ich war das nicht«, sagte Colette leise. »Ein anderer Bettler muß seine Taschelzieherkunst an Euch erprobt haben.«
»Davon wußte ich nichts, und davon wollte ich auch nicht sprechen«, fuhr der Geistermönch fort. »Jammert nicht über Euer Geld, seid lieber dankbar für Euer Leben, Armand! Ihr wärt unter die Hufe des Mörders Godin geraten – sei es aus Zufall oder weil der Notar Euch mit Avrillot gesehen hatte –, hätte Colette Euch nicht gewarnt.«
»Ihr wart das?«
Ich sah in Colettes kummervolle Augen und kam mir schlecht vor, gemein. War ich, war mein rüdes Verhalten für den tiefen Schmerz verantwortlich, den ich in ihren Augen las? Gleich sollte ich erfahren, wie sehr dieser Gedanke eitler Selbstüberschätzung entsprang.
»Überlegt Euch, ob Ihr Colette nicht etwas schuldet, Armand!« sagte der Geistermönch und holte zum nächsten Hieb aus. »Das Leben Ihres Vaters für das Eure.«
Als ich Colette fragend anblickte, sagte sie mit leiser, zitternder Stimme: »Mein Vater ist Marc Cenaine. Als sie ihn verschleppten, konnte ich entkommen. Seitdem versuche ich herauszufinden, wo sie ihn festhalten. Meine Mutter starb schon früh, auch meine Geschwister, nur mein Vater ist mir geblieben. Wenn ich nur wüsste …«
Von einem Weinkrampf geschüttelt, brach sie in meinem Schoß zusammen. Ich legte die Arme um sie und strich ihr über den Kopf, ge-noß ihre Wärme und ihren Duft. Mitleid und Zuneigung für Colette durchströmten mich, sandten warme Wellen durch meinen Leib. In diesem Augenblick hätte ich für das hilflose, zarte, warme, wundervolle Wesen in meinen Armen alles getan. Ich wäre sogar nach Notre-Dame zurückgekehrt, doch schien mir dies – und ich gestehe meine Erleichterung darüber – gar nicht nötig. Marc Cenaine sollte da eingekerkert sein, wohin man auch den Irren von 1465 gebracht hatte. Was ich darüber in Erfahrung bringen konnte, hatte ich bereits in Gringoires Buch gelesen.
Ich berichtete Colette und dem
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