Im Schatten von Notre Dame
Speicher hatten die Flammen verschlungen. Einige Fässer, Kisten und Säcke hatte man vor dem Feuer retten können. Leicht angekohlt säumten sie die Brandstätte wie ein Reigen trauernder Hinterbliebener. Das Müllerhaus an der anderen Seite der Pfandleihe hatte dank seiner steinernen Mauern überlebt, und nur die rußgeschwärzte Wand neben der Brandruine zeugte von der überstandenen Gefahr. Ich blickte auf das zerborstene Geländer, wo ich mit dem bärenstarken Kerl in die Tiefe gestürzt war. Das Mühlrad, das ihm zum Verhängnis geworden war, schaufelte mit un-schuldigem Fleiß Wasser und bespritzte mich mit seiner schäumenden Gischt.
»Weiter, Monsieur!«
Einer der Sergeanten zog mich mit sich und machte mir damit erst bewußt, daß ich, von der Erinnerung an das schreckliche Erlebnis gebannt, stehen geblieben war. Das düstere Mauerwerk des Grand-Châ-
telet, in das wir eintauchten, war nicht geeignet, mich aufzuheitern.
Auch hier war ich Zeuge eines gewaltsamen Todes geworden, und wenn ich dem Notar Gilles Godin begegnete, würde man mich als Mörder einsperren – falls Leutnant Falcone das nicht ohnehin vorhat-te. Aus den Mauern vorspringende Türme säumten den Hof und bewachten die Gefangenen in den Kerkern. Das nahm ich als letztes Bild in mich auf, bevor die Sergeanten mich in das finstere Kellergewirr aus Treppen und verschlungenen Gängen führten.
Sie geleiteten mich in einen unterirdischen Raum, aus dem uns süß-
licher, ekelerregender Gestank entgegenschlug. Er gemahnte mich an den Duft des Todes, der den Gebeinhäusern auf dem Friedhof der Unschuldigen Kindlein entströmte. Als ich den von Öllampen beleuchteten Raum betrat, sah ich, woher der Atem der Verwesung wehte. Piero Falcone stand vor einer Reihe Leichen, die säuberlich aufgereiht auf dem nackten Boden lagen. Andere Tote waren in grobes Leinen gewik-kelt und warteten darauf, zum Friedhof gekarrt zu werden.
»Ah, da seid Ihr endlich!« Falcone begrüßte mich mit der falschen Freundlichkeit eines gerissenen Händlers und wies sogleich auf die fünf Leichname, die nicht in Tücher gehüllt waren und mit toten Augen ins Nichts starrten. »Seht Euch das an, Monsieur Armand. Eine hübsche Ausbeute, wie?«
Ich mußte mich arg zusammennehmen, um nichts von meiner Erregung preiszugeben. Denn ich erkannte die Toten sofort, zumindest vier von ihnen. Es waren der narbengesichtige Degenschwinger und seine drei Gefährten, welche von den Italienern ins jenseitige Dasein befördert worden waren. Der fünfte Leichnam war ein wenig lädiert: Ein Arm unnatürlich verrenkt, das Gesicht eingedrückt und kaum noch zu erkennen. Aber der kräftige Körperbau verriet, daß es sich um den Mann handelte, der mit mir von der Brücke gestürzt war. Das Mühlrad hatte ihm gehörig zugesetzt.
»Seid Ihr über die Müllerbrücke gekommen, Monsieur Armand?
Nun, dann habt Ihr ja das abgebrannte Haus gesehen. Dort fand man vier der Verblichenen. Den fünften, diesen Riesenkerl mit dem zer-quetschten Gesicht, haben die Wachen am Louvre heute morgen, als sie die nächtliche Sperrkette einzogen, aus der Seine gefischt. Er gehört zu den vier anderen.«
»Wie könnt Ihr das wissen?« fragte ich im Unschuldston.
Falcone tippte den Narbengesichtigen mit der Stiefelspitze an. »Das hier ist Frontor der Narbige, ein guter Fechter, aber auch ein übler Halunke. Für Geld hätte er seine Klinge auch in den Leib seiner schwan-geren Schwester gebohrt. Die anderen gehörten zu seiner Bande. Der verunstaltete Dicke wurde Chariot der Knacker genannt. Mit seiner Bärenkraft hat er mehr Menschen das Rückgrat gebrochen, als hier in die Leichenkammer passen würden.«
»Sehr beruhigend, daß jemand ihrer Laufbahn ein Ende gesetzt hat.«
»In der Tat, Monsieur Armand. Doch wüsste ich gern, wer dieser Jemand ist.«
»Verständlich, Herr Leutnant. Aber warum erzählt Ihr mir das alles?«
»Weil ich hoffe, Ihr könnt mir weiterhelfen. Wart Ihr gestern nachmittag auf der Müllerbrücke?«
Erst wollte ich es rundweg leugnen. Aber was, wenn man mich gesehen hatte? Irgendein Müller, der bei dem schlechten Wetter in seinem Haus gehockt und durch die halbblinden Scheiben hinaus in den Sturm gestarrt hatte, mochte mich den Wachen beschrieben haben.
»Ja, ich war auf der Brücke«, sagte ich also. »Da ich in letzter Zeit viel gearbeitet habe, ging ich auf Dom Frollos Rat ein wenig frische Luft schnappen.«
»Frische Luft schnappen? Gestern?« Falcones Stimme überschlug sich
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