Im Schatten von Notre Dame
diesen Federschwinger, haben wir zurückgelassen, obwohl er sich wie eine Klette an den Rock meiner Schönen hängt.«
»Gringoire ist wirklich Euer Gemahl?« entfuhr es mir. Ich hatte nicht so recht glauben können, was Dom Frollo mir darüber erzählt hatte.
»Nur nach Gaunerrecht«, antwortete la Esmeralda. »Ich mußte ihn zum Gemahl erwählen, weil niemand sich seiner erbarmte und Trouillefou ihn aufhängen wollte. Ein Mann, der lange Zeit für Dom Frollo gearbeitet hat, schien mir und meinem Vater für dieses Schicksal zu wertvoll. Er könnte nützliche Dinge wissen. Aber er soll nur einmal wagen, mir zu nahe zu treten!«
Ich griff an meinen Hals.
»Ich kann mir sehr gut denken, was ihn dann wohl erwartet.«
Über Colettes Nase bildete sich eine misstrauische Falte, und ihr Blick pendelte forschend zwischen der Zigeunerin und mir, was ich sehr schmeichelhaft fand.
Villon trat zu ihr. »Das ist die Tochter von Marc Cenaine. Seit heute kenne ich sein Versteck. Wollt Ihr mit Euren Leuten helfen, ihn zu befreien, Herzog?«
Die Ägypter wollten, und so wurde gemeinsam ein Schlachtplan für den nächsten Tag geschmiedet.
»So hat jeder eine Aufgabe«, stellte Mathias befriedigt fest. »Hoffen wir nur, daß Frollo unsere Pläne nicht durchkreuzt!«
»Dann warnt uns hoffentlich Armand«, sagte Villon und sah mich an. »Das heißt, falls er gewillt ist, in die Höhle des Löwen zurückzukehren.«
Aller Augen richteten sich auf mich, aber ich sah nur die Blicke von Villon und Colette. Ich wollte, daß mein Vater stolz auf mich und daß Colette mir dankbar war.
»Natürlich gehe ich zurück!« verkündete ich wie ein Ritter aus einem Epos, der soeben beschlossen hat, ein zehnköpfiges, Feuer speiendes Ungetüm zu erlegen. Und als ich es gesagt hatte, schien mir der Kuß, den Colette auf meine Wange drückte, jede Gefahr mehr als wert. Das Aufleuchten in den Augen meines Vaters tat ein übriges, mich in meinem Entschluß zu bestärken.
Doch als ich mich später, nach Mitternacht, den Türmen von Notre-Dame näherte, stockten meine eben noch beschwingten Schritte. Ich war kein Ritter, nicht einmal ein Soldat, sondern ein kleiner Schreiber, der sich anmaßte, ein Spion zu sein. Hier auf der Cité-Insel, umweht von frischer Nachtluft, die vom Fluss herüberblies, klärte sich mein Verstand, befreite sich von dem Fiebertraum, der mich in dem unterirdischen Labyrinth befallen hatte. Ein Wicht war ich, wie ich da auf dem Vorplatz stand und zu den beiden Glockentürmen hinaufstarrte, die mit ihrer Galerie ein gewaltiges H bildeten, standhaft und gewiß nicht von einem Kopisten zu erschüttern. Wie sollte ich es wagen, diesen festen Mauern ein Geheimnis zu entreißen?
Die Ampeln in den Kapellen sandten bunte Lichtstrahlen durch die Fenster. Das Riesentier hatte die Augen geöffnet, um mich zu beobachten. War das wirklich Unsere Liebe Frau, erbaut zum Ruhme Gottes? Welchen Gottes? Wenn aber dieses mächtige, wunderbare Bauwerk den Weltenschöpfer verherrlichte, den bösen Gott, dann stand es in Satans Diensten. Ein aus Fels gehauener Goliath, und ich war ein David, der noch nicht mal eine Steinschleuder besaß.
Oben auf der Galerie nahm ich trotz der Nachtfinsternis eine Bewegung wahr. Ein Zucken, das durch einen der Wasserspeier lief. Ein Dä-
mon war zum Leben erwacht und sah auf mich herab. Ich wußte, daß er einen Höcker trug und nur ein Auge hatte. Doch dieses Auge war gefährlich, war das Auge eines Dämons und zugleich das seines noch viel dämonischeren Herrn.
Der Gedanke an meinen Vater und an Colette gab mir die Kraft und Zuversicht, in den Schatten von Notre-Dame zu treten. Auf der dunklen Treppe und dann im Turm erwartete ich bei jedem Schritt, dem Glöckner zu begegnen. Erleichtert erreichte ich meine Zelle, ohne auch nur einen Blick auf Quasimodo erhascht zu haben. Ich schlug die Tür hinter mir zu und fiel erschöpft aufs Bett. Notre-Dame hatte mich wieder.
VIERTES BUCH
Kapitel 1
Der süße Duft des Todes
Ich hatte nicht gehofft, überhaupt Schlaf zu finden. Doch meine Erschöpfung war ebenso groß wie mein Drang, den Gedanken zu entfliehen, die meinen Kopf mit einem lauten, dröhnenden, schmerzhaften Veitstanz malträtierten. Ich sank in einen Schlaf, so tief, daß die Mauern von Montségur, die mich in vielen Nächten heimgesucht hatten, blasse Schemen blieben. Nur ein Gesicht trat deutlich hervor, erschreckend deutlich: streng, verschlossen, unter der Krone des früh ergrauten Haarkranzes
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