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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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war klar, daß er mich als Lockvogel benutzen wollte. Vielleicht ließ er mich sogar beobachten.
    Deshalb hielt ich mich einstweilen in der Neustadt auf, drängte mich durch belebte Gassen zum Grève-Platz, tauchte bei den Bootsanlegern in das Gewimmel von Händlern, Schiffern und Schauerleuten ein und lief dann im Schatten der großen Kaufmannshäuser, die das Ufer säumen, zur Notre-Dame-Brücke. Mit schnellen Schritten überquerte ich den Fluss und nahm auch auf der Cité-Insel einen verschlungenen Weg, obgleich ich mir sicher war, mögliche Verfolger längst abgeschüttelt zu haben. Die Mittagsstunde nahte, und ich beeilte mich, rechtzeitig am Justizpalast einzutreffen. Die große Uhr an der Ostseite des ek-kigen Turms schlug zum zwölften Mal, als ich ihrer ansichtig wurde.
    »Ob die Conciergerie hier im Justizpalast, das Châtelet oder die Bastille, die Kerker von Paris haben gewiß ebenso viele Unschuldige wie Schuldige in ihren finsteren Bäuchen«, sagte eine leise Stimme in mein Ohr, und eine klauenartige Hand legte sich auf meine Schulter. Neben mir stand eine Gruppe Zisterzienser in ihren ungefärbten hellen, dem Armutsideal verpflichteten Kutten. Allesamt hatten sie die schwarzen Kapuzen übergestreift, auch derjenige, der eben zu mir gesprochen hatte. Doch er war kein Zisterzienser. Erst erkannte ich die runzlige Klaue, dann die geisterhafte, vom Husten geschwächte Stimme. Fran-
    çois Villon hatte die dunkle Kutte des Geistermönchs gegen die helle des Zisterzienserbruders vertauscht.
    Bei ihm waren sechs weitere Verkleidete, darunter Leonardo und Tommaso. Atalante hatte wegen seines verletzten Arms schweren Herzens auf die Teilnahme an dem Unternehmen verzichtet. Drei kräftige Männer namens Hardoin, Clément und Toison, Katharer oder Coquillards oder beides, trugen große Kiepen. Colette ergänzte die Gruppe; sie hatte, wie ich hörte, Villons heftigen Protesten zum Trotz darauf bestanden, bei der Befreiung ihres Vaters dabeizusein.
    So wie ich. Als Villon am Abend zuvor eingewandt hatte, ich sei als sein Späher in Notre-Dame wichtiger – um Dom Frollo auszuhorchen, um hinter die Identität des Großmeisters zu kommen und um das Geheimnis von ΑΝΑΓΚΗ zu ergründen – hatte ich das nicht gelten lassen. Ich wollte nicht länger ausgeschlossen sein, ein dummer Bauer in dem großen Spiel. Ich wollte bei meinem Vater sein und bei Colette!
    »Warum kommt Ihr so spät, Armand?« fragte Villon.
    Ich berichtete von meinem Besuch in der Leichenkammer, während die anderen einen Kreis um mich bildeten. Hardoin zog die Tracht eines Zisterziensers aus seiner Kiepe, die im übrigen mit Roggenbroten, Maiskuchen und Pasteten gefüllt war. Ich streifte den hellen Talar aus grober Wolle über, dann das schwarze Skapulier mit der Kapuze und schlang schließlich das ebenfalls schwarze Cingulum, das nicht mehr war als ein faseriger Strick, um meine Taille.
    Derweil erzählte Villon in knappen Worten, daß er noch vor dem Morgengrauen einen Erkundungstrupp zum unterirdischen Tempel der Cité-Insel gesandt hatte. Die Männer hatten nicht mehr als das Erdloch entdeckt, durch das man in den Tunnel gelangte. Der aber war teilweise eingestürzt, versperrt von Gestein und Erdreich. Wahrscheinlich hatten die Dragowiten den nicht mehr sicheren Tempel ge-räumt und beschlossen, sich künftig an einem anderen Ort zu treffen.
    »Seid Ihr bewaffnet, Signore Armand?« fragte Leonardo.
    Ich verneinte, und er gab mir einen Dolch mit zum Ort geboge-nen Parierstangen, den ich unter die Mönchskutte in meinen Gürtel schob.
    »Dann lasst uns den Palast der Gerechtigkeit betreten«, sagte Villon.
    »In der Zuversicht, daß wir ihn als freie Menschen wieder verlassen!«
    Während wir durch die mit Gauklern und Händlern reich bevölkerten Gassen an den Mauern des ehemaligen Königspalastes entlanggin-gen, fragte ich: »Was meint Ihr, Messire Villon, warum hält man Cenaine hier gefangen? Wenn die Dragowiten Vertrauensleute wie Gilles Godin und Charles Mouron am Châtelet haben, wäre es doch sinnvoll gewesen, ihn dort einzukerkern.«
    Colette antwortete anstelle von Villon: »Mein Vater war in der Münz-kammer tätig, und die gehört zum Justizpalast, dessen Gerichtsbarkeit er damit untersteht.«
    »Ist er denn ein rechtmäßig Gefangener? Ich dachte, man hätte ihn bei Nacht und Nebel verschleppt.«
    »Halb und halb«, meinte Villon. »Dom Frollos Arme reichen weit, nicht nur bis ins Châtelet, sicher auch bis in den Justizpalast.

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