Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
Vom Netzwerk:
fast. Er sah mich an, als wisse er nicht, ob er mich wegen meiner dummen Antwort auslachen oder sich über mich empören sollte. »Das war keine frische Luft, das war ein gehöriger Sturmwind! Nicht wenige Unglückliche hat es von den Brücken und Kähnen in die Seine gerissen.« Er zeigte auf die verpackten Leichen. »Und da geht Ihr seelenruhig auf der Müllerbrücke spazieren?«

    »Nun, das Wetter war in der Tat ziemlich rau. Deshalb überlegte ich es mir anders, als ich etwa in der Mitte der Brücke stand, dort, wo spä-
    ter das Haus niederbrannte. Ich ging zurück zur Cité-Insel und wärmte mich in einer Schenke am Brückenkopf mit heißem Würzwein auf.«
    »Und das soll ich Euch abnehmen?«
    »Die Schenke heißt ›An der Müllerbrücke‹. Fragt den Wirt, er selbst hat mich bedient.«
    Der Leutnant schien unzufrieden, zweifelnd. Sein Blick streifte die fünf Toten und blieb dann lange auf mir haften. »Und in der Schenke seid Ihr länger geblieben?«
    »Nein, ich habe noch andere Gasthäuser aufgesucht.«
    »Deren Namen Ihr wohl auch nennen könnt?«
    Ich lachte Falcone ins Gesicht. »Könnt Ihr Euch Namen merken, wenn der Wein Euren Geist benebelt? Ist nicht eine Pinte wie die andere, ausgenommen vielleicht die der Dicken Margot? Ich weiß nur noch, daß ich nach Mitternacht nach Notre-Dame heimkehrte, mit einem Schädel so dick, daß er noch heute morgen brummte.«
    Jetzt grinste auch der Leutnant. »Deshalb also scheint Ihr so mitgenommen. Bedauerlich, daß Ihr mir mit dem abgebrannten Haus nicht weiterhelfen könnt. Der Pfandleiher, dem es gehörte, ist bis auf die Knochen verkohlt. Ich frage mich, was Frontor von ihm wollte und wer das alte Narbengesicht und seine Bande so schlagkräftig ins Jenseits befördert hat.«
    »Vermutet Ihr einen Zusammenhang mit den Taten des Schnitters?
    Oder warum sonst habt Ihr mich herbringen lassen?«
    »Man hat gestern einen Mann vor der Pfandleihe gesehen, auf den Eure Beschreibung paßt, Monsieur Armand. Und tatsächlich wart Ihr dort. Ihr scheint den Tod anzuziehen, als läge ein Fluch auf Euch.«
    »Wirklich ein seltsamer Zufall«, sagte ich in beiläufigem Ton.
    »Sagt nicht Demokrit, die Menschen hätten sich im Zufall ein Trugbild geschaffen, einen Vorwand für ihre eigene Torheit? Und sagt er nicht auch, daß Zufall und Überlegung nur selten im Widerspruch stehen, daß einsichtsvoller Scharfblick die meisten Dinge in eine Ordnung zu bringen vermag?«

    Erstaunt blickte ich ihn an. »Ihr habt Demokrit gelesen, Herr Leutnant?«
    Falcone lächelte hintergründig. »Nur ein Zufall. Doch frage ich mich, ob er nicht recht hat, ebenso wie dieses Sprichwort.«
    »Welches?«
    »Auf den Zufall bauen ist Torheit, den Zufall zu benutzen aber ist Klugheit.«
    »Ihr glaubt mir also nicht«, schlussfolgerte ich. »Ihr denkt, ich spreche von einem Zufall, um die Wahrheit zu verschweigen.«
    Er machte eine Geste der Ratlosigkeit. »Ich weiß nicht, ob ich Euch für einen durchtriebenen Burschen halten soll oder für einen heiligen Narren. Im ersten Fall wärt Ihr eine Gefahr für andere, im zweiten wärt Ihr es für andere und für Euch selbst. Seht Euch diesen Raum gut an, Monsieur Armand! Täglich fischt man Leichen aus der Seine und bringt sie hierher, nach vielen fragt kein Schwein. Falls Ihr mehr wisst, als Ihr mir sagt, überlegt Euch gut, ob Schweigen angebracht ist. Wer einmal hier liegt, kann sich nicht mehr rausreden.«
    »Ich habe Euch nicht mehr zu sagen, Leutnant. Haltet mich getrost für einen Narren.«
    Das war die einzige Antwort, die ich ihm geben konnte. Alles andere mochte mich vor der Leichenkammer bewahren, brachte mich aber unweigerlich in die Kerkerzellen und Folterkammern, die es irgendwo in diesem Gewölbe gab. Zudem hätte jedes weitere Wort meinen Vater gefährdet und Colette, die gestern die Weihe zur Katharerin, zur Ketzerin, empfangen hatte.
    »Wenn Ihr ein Narr seid, dann ein sehr großer«, sagte Falcone zum Abschied. »So groß, daß man Euch beim nächsten Narrenfest zum Papst küren kann – falls Ihr den Tag noch erlebt!«

Kapitel 2
    Im Kerker der Vergessenen
    Ich kehrte nicht über die Müller- oder die angrenzende Wechslerbrücke auf die Seine-Insel zurück. Der Grund war einfach: Ich traute Leutnant Falcone sowenig wie er mir. Daß ich seinen Verdacht gegen mich nicht entkräftet hatte, hatte er mehr als deutlich erkennen lassen. Er hätte versuchen können, meine Zunge auf der Folterbank zu lösen, doch er hatte mich gehen lassen. Mir

Weitere Kostenlose Bücher