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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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verstand, warum der Schließer von Kettenraßlern gesprochen hatte.
    »Führt uns bitte ganz nach hinten, Sergeant«, bat Villon. »Dort sind nach meiner Erfahrung die Ärmsten der Armen eingesperrt.«
    »Ihr meint, dort sitzt der gemeinste Abschaum seine Strafe ab«, mek-kerte der Sergeant und geleitete uns in einen Zellentrakt, der noch kälter und düsterer war als der übrige Teil. Nur wenige Kerzen brannten in den Wandhaltern, als sei besseres Licht Verschwendung. Wer hier eingekerkert war, stand dem Tod näher als dem Leben, war lebendig begraben. Die Luft war feucht wie in einer Nebelbank, durchsetzt von Fäulnis, und wieder glaubte ich, den Tod zu wittern.
    »Sehr schön, Sergeant«, sagte Villon salbungsvoll. »Und jetzt gebt uns bitte den Schlüssel zum Durchgang.«
    »Wie?« Der Wächter legte sein blondes Haupt schief und sah Villon an. »Wovon redet Ihr, Bruder?«
    »Von dem Durchgang, der zum Kerker der Vergessenen führt.« Villon wies auf eine steile Treppe, die in einem dunklen Loch verschwand.
    »Woher wisst Ihr …« Der Sergeant brachte seinen Satz nicht zu Ende.
    Aus Verwunderung wurde Misstrauen, und er griff zu dem Kurzschwert an seiner Hüfte. »Ihr seid keine frommen Brüder! Wer seid ihr? Was wollt ihr hier?«
    Er hatte sein Schwert noch nicht ganz gezogen, da drückte Villon ihm schon einen Dolch gegen den dicken Hals. »Lasst das Schwert stecken, oder es wird Euer letzter Streich!«
    Der Sergeant zögerte und wurde durch Leonardo der Entscheidung enthoben. Der Italiener, der hinter ihm stand, zog das Stoßschwert und rammte den Knauf mit solcher Gewalt auf den Hinterkopf des Wächters, daß der Getroffene bewusstlos zu Boden ging. Villon löste sein Cingulum und band dem Sergeanten damit die Hände auf den Rük-ken. Ich griff nach meinem Gürtelstrick und fesselte die Beine, was mir ein anerkennendes Nicken meines Vaters eintrug.
    Er wandte sich an Leonardo: »Kümmert Euch um die beiden anderen!«
    Leonardo und Tommaso kehrten zusammen mit Clément, Hardoin und Toison, die ihre Kiepen abgelegt hatten, um. Als sie wiederkamen, trug nur noch Clément sein Cingulum.
    »Die Wachen sind wahrhaft gehorsame Burschen«, kicherte Leonardo. »Sie sind ihrem Sergeanten sogar bis ins Reich der Träume gefolgt.«

    Villon hatte derweil mit einem Schlüssel vom Bund des Sergeanten eine Tür am Fuß der steilen Treppe geöffnet. Das Ganze geschah zum Glück im Halbdämmer jenseits der Kerkerzellen. Hätten die Gefangenen mitbekommen, daß wir ihre Wärter entmachtet hatten, hätten sie wohl einen Höllenlärm veranstaltet, um freizukommen. Wir aber waren nur wegen eines einzigen Unglücklichen hier.
    Finsternis hätte uns umhüllt, hätten Clément und Toison nicht auf Villons Weisung Kerzen aus den Wandhaltern genommen. Im Kerker der Vergessenen waren die Gefangenen von der Sonne und jedem anderen Licht abgeschnitten. Vom Schein der Kerzen und von unseren Schritten aufgeschreckt, regten sich die zerlumpten Gestalten in den engen Zellen. Ketten klirrten, und krächzende Stimmen winselten um Gnade, um einen Schluck Wein, ein Stück Brot.
    Vor jeder Zelle blieben wir stehen und leuchteten hinein, auf schim-melpilzige Wände, von Ratten und Gewürm wimmelnde Haufen aus Stroh und Unrat und in die eingefallenen, verzweifelten, mit schwä-
    renden Wunden übersäten Gesichter. Und jedes Mal schüttelte Colette enttäuscht den Kopf. Bis sie am Ende des Ganges, vor der letzten Zelle, mit einem Aufschrei, dem ein heftiges Schluchzen folgte, zusammenbrach. »Vater! Was hat man Euch angetan? Wie konntest du das zulassen, Gott? Vater!«
    Erst Colettes Stammeln brachte Leben in die gespenstische Gestalt, die dort angekettet war, als habe man sie für alle Ewigkeit festschmie-den wollen. Hand- und Fußgelenke wurden von eisernen Ringen um-schlossen, und ein weiterer lag um den Hals. Jetzt ging ein Beben durch den ausgemergelten Leib, und Marc Cenaine hob den Kopf in unsere Richtung.
    »Oh, Vater! Sein Haar ist ergraut!« schluchzte Colette. Tatsächlich sah er viel älter aus, als er sein mußte. Nicht nur wegen des verfilzten grauen Haupt- und Barthaares. Sein Gesicht war eingefallen, die Haut faltig und fast so grau wie das Haar, von Geschwüren und Narben bedeckt. Die Augen, unter denen schwere Tränensäcke lagen, blickten wie durch einen Schleier, der den Gefangenen von der Welt der Menschen trennte. Die rissigen, mehrfach aufgeplatzten Lippen formten unhörbare Worte. Selbst zum Sprechen schien die armselige

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