Im Schatten von Notre Dame
ungebrochener und vielleicht gerade neu geschürter Erregung hervor, öffnete seinen Gürtel und wollte die Hose nach unten streifen. »Und jetzt wirst du sehen, was meine Kaulquappe vermag!«
Sosehr der Schließer sich auch an dem Schauspiel ergötzen mochte, sein Pflichtbewusstsein gewann die Oberhand. Er trat vor, baute sich vor den Streitenden auf und forderte eine Erklärung für ihr schändliches Treiben.
»Gothon, was meine Frau hier ist, will sich von mir scheiden lassen«, sagte der Mann mit der offenen Hose, als erkläre dies alles.
»Na und, kein Wunder«, verkündete die Entblößte. »Die Tage im Jahr, an denen Antoine einen hochkriegt, kann ein Einarmiger an seinen Fingern abzählen. Mit dem Wurm zwischen seinen Beinen könn-te ein Angler nicht mal ‘ne Elritze anlocken.«
»So, nicht mal ‘ne Elritze, wie?« Mit fliegenden Fingern fummelte Antoine an seiner offenbar widerspenstigen Hose herum. »Den Wurm wirst du gleich sehen. Wart nur ab, bis er sich in deinen löchrigen Pelz bohrt!«
»Halt!« schrie der Sergeant und war nahe dran, sein Schwert aus der Scheide zu ziehen. »Ihr Pack werdet doch nicht hier im Justizpalast …«
»Und ob wir das werden, und ob!« tönte der wütende Antoine. »Es ist mein gutes Recht noch aus der Zeit, als der König hier residierte, ja-wohl! Wenn ich vor Zeugen meine Manneskraft beweise, muß Gothon ihr Verlangen auf Scheidung zurückziehen. Erkundigt Euch nur, wenn Ihr mir nicht glaubt!«
Villon sah seinen Augenblick gekommen und trat an den Schließer heran. »Verzeiht die Unterbrechung, Sergeant, aber wir möchten zu den Gefangenen.«
»Nicht jetzt«, bellte der Mann. »Ich bin beschäftigt.«
»Wir auch«, erwiderte Villon ruhig. »Der Herr hat uns die Zeit nicht gegeben, um sie zu verplempern.«
»Na und?« Der Sergeant zuckte mit den Schultern. »Dann geht mit Euren Brüdern beten. Hier habt ihr nichts zu suchen. Niemand darf zu den Gefangenen.«
»Ihr wisst sehr wohl, daß das nicht für die Diener des Herrn gilt.«
Villon zeigte auf die Kiepenträger. »Unser Stift hat Geld für Essen gesammelt, das wir den armen Gefangenen bringen.«
»Ach so, schon wieder Klosterfraß für die Kettenraßler. Sagt das doch gleich!« Der Sergeant ging zur Tür und schloß sie auf. »Klopft an, wenn ihr wieder rauswollt. Nicht jeder da drin hat dieses Glück.«
Einer nach dem anderen schritten wir durch das Tor, während der Sergeant sich wieder dem streitenden, keifenden Paar zuwandte. Einer der Hellebardiere warf die Tür hinter uns ins Schloß.
»Ist das wahr?« fragte ich Villon. »Gibt es dieses erstaunliche Recht auf Beweisführung tatsächlich?«
»Ja, allerdings muß der Beweis im Beisein von fünfzehn Zeugen aus dem ärztlichen Stand erbracht werden.«
»Fünfzehn zuschauende Quacksalber?« ächzte ich. »Da könnte ich nicht den kleinsten Beweis erbringen.«
Der Lärm, den das Gewimmel im öffentlichen Teil des Justizpalastes verursachte, blieb hinter der dicken Holzbohlentür zurück. Eine steile Treppe führte uns in das dämmrige, kalte und feuchte Reich der Un-freiheit. An den nackten Wänden floß das Wasser in kleinen Bächen herunter.
»Will man die Gefangenen ersäufen?« Mich schauderte bei der Vorstellung, hier eingesperrt zu sein. »Oder spart man sich auf diese Art die Wasserfolter?«
»Weder noch«, sagte Villon. »Der Kerker liegt unter einem Wasserspeicher, und die Nähe des Flusses tut ein übriges. Aber das wird uns von Nutzen sein. Und jetzt leise!«
Hinter einer Biegung hockten drei Wächter in einem vergitterten Verschlag und ließen beinerne Würfel über einen fleckigen Tisch rollen. Villon holte ein paar große Pasteten und eine weingefüllte Kürbisflasche aus einer der Kiepen. »Eine kleine Gabe für die verdienstvollen Wachen der Conciergerie«, flötete er.
»Nur her damit«, rief der wachhabende Sergeant. »Wäre ja noch schöner, wenn wir schlechter leben müßten als das Halunkenpack!«
Während seine Kameraden schon nach den Pasteten griffen, führ-te er uns einen langen Gang entlang, den die Gittertüren der Zellen säumten. Dahinter hockten schmutzige, ausgemergelte Gestalten auf fauligem Stroh. Einige stierten ausdruckslos ins Leere, schienen an der diesseitigen Welt längst keinen Anteil mehr zu nehmen, andere zerrten bei unserem Erscheinen an ihren Ketten. Sie riefen und flehten, um etwas von unseren Gaben zu erhaschen. Es war ein schauriges Konzert der heulenden Stimmen und klirrenden Ketten, und ich
Weitere Kostenlose Bücher