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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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Wasserspeicher.«
    Leonardo hatte einen Bolzen aus dem Köcher des toten Schützen gezogen und die Armbrust gespannt. Er hob die Waffe, zog den Schaft tief in die linke Schulter ein und zielte auf die anstürmenden Feinde, die im Licht ihrer Laternen deutlich zu sehen waren. Leonardos Linke drückte ruhig den Abzugshebel an den Schaft, und die Sehne löste sich aus der Nuss. Mit klingendem Sirren durchschnitt der Bolzen die Luft und fuhr in die Brust eines Soldaten, der gerade selbst die Armbrust anlegte. Der Bolzen durchdrang den Kettenpanzer und schleuderte den Mann nach hinten, bevor er zum Schuß kam. Seine nachrük-kenden Kameraden stolperten über den Gefallenen.
    Die verheerende Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Ein vielfaches Gesirre, das an einen Hornissenschwarm erinnerte, erfüllte die Kerkerluft, und ein Regen von Armbrustholzen ging auf uns nieder.
    Die eisernen Spitzen schrammten kreischend über nackten Stein oder prallten mit metallischem Klirren gegen die Gitterstäbe von Cenaines Zelle.
    Toison stürzte unter lautem Gebrüll zu Boden, begrub die Kerze unter sich und löschte ihre Flamme. Ein Bolzen war in seinen linken Oberschenkel gefahren, so tief, daß die blutige Spitze auf der anderen Seite herausragte. Clément und Tommaso sprangen zu ihm, griffen unter seine Schultern und hoben ihn auf. Sie schleppten ihn mit sich zu dem schmalen Durchlass, in den Villon gerade eintauchte.
    Ich setzte ihm nach und zog Colette mit mir. Sie hatte ihren Widerstand aufgegeben. Tränen rannen über ihre Wangen. Hinter uns kamen Tommaso und Clément mit dem verletzten Toison, schließlich Leonardo, der keuchend ausrief: »Schneller, sonst kriegen sie uns!«
    Wie zum Beleg seiner Worte schoß ein Armbrustbolzen an seinem Kopf vorbei und zerbarst dicht neben Tommaso an der Wand. Der kräftige Italiener zog den Kopf zwischen die Schultern – viel zu spät, wäre das Geschoß auf ihn gezielt gewesen.
    Wir folgten Villon ein paar brüchige Stufen hinauf. Die Luftfeuch-tigkeit nahm zu. Der Boden wurde abschüssig, und bald standen wir bis zu den Knöcheln im Wasser. Villon nahm Clément die letzte uns verbliebene Kerze ab und hielt sie hoch. Wir befanden uns am Rande eines unterirdischen Teiches, über den sich altes Gemäuer, vielleicht noch aus der Römerzeit, bogenförmig wölbte.
    »Der Wasserspeicher!« stieß Villon hervor. »In diesem Palast lag frü-
    her im Kriegsfall die letzte Zuflucht der Pariser. Wurden sie belagert und vom Fluss abgeschnitten, hatten sie dank dieses Reservoirs immer genug Wasser. Eine nie versiegende Quelle, mit der Seine durch geheime Kanäle verbunden, so daß der Wasserstand immer auf gleicher Höhe bleibt. Diese Kanäle sind unser Weg in die Freiheit. Folgt mir und schwimmt um euer Leben!«
    Er warf die Kerze ins Wasser, damit die Flamme uns nicht verriet, streifte die weite, beim Schwimmen hinderliche Mönchskutte ab und stürzte sich ins Nass. Wir taten es ihm nach, und erleichtert stellte ich fest, daß in Colette noch Lebensmut steckte. Oder schwamm sie rein mechanisch, so wie sich das Räderwerk der Uhr draußen am Turm bewegte und das der sonderbaren Denkmaschine, wenn man die richtigen Hebel zog?
    Am meisten mühte sich Toison ab. Bei jedem Schwimmstoß verzerrte sich sein Gesicht vor Schmerz, und vielleicht hätte er es nicht geschafft, wäre Clément nicht treu an seiner Seite geblieben. Das sah ich im Licht der Laternen, deren Strahlen über den unterirdischen See huschten. Das Licht half uns, Villon zu dem Kanal zu folgen, der sich undeutlich in der Felswand vor uns abzeichnete. Das war, wenn auch ungewollt, sehr hilfreich von den Soldaten des Königs und allemal erfreulicher als die Bolzen, die über uns durch die Luft pfiffen. Todbringende Vögel, die einer nach dem anderen mit scharfem Klatschen ihre eisernen Schnäbel ins Wasser stießen.
    Das Loch im Fels, angefüllt mit Wasser, verschluckte uns, und für eine kurze Strecke gab es keine Luft. Wir tauchten, stießen endlich wieder an die Oberfläche und atmeten auf: Hier konnten uns die Geschosse nicht erreichen, und vor uns wurde es heller. Die Luft, die ich gierig in meine Lungen sog, schmeckte frisch, nicht abgestanden und tot wie die im Kerker. Bald stießen unsere Füße auf Grund, und wir taumelten ins helle Tageslicht. Vor uns lag ein leicht abschüssiger Uferstreifen, der in den von Fähren und Lastkähnen befahrenen rechten Seine-Arm überging.
    Colette war erschöpft und wäre zusammengesunken, hätte

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