Im Schatten von Notre Dame
Mehrmals mußte ich mich bezwingen, nicht einfach zum Wunderhof zu laufen.
Aber ich hatte Villon fest versprochen, bis zum Abend des folgenden Tages den folgsamen und fleißigen Kopisten zu mimen, um Frollos Misstrauen nicht zu schüren. Wider Erwarten bekam ich meinen Dienstherrn nicht zu Gesicht.
Endlich schickte sich die Sonne zum zweiten Mal an, ihre Glut in den Fluten der Seine zu löschen. Ich stand auf der Galerie zwischen den Türmen und sah zu, wie der Fluss das Feuer allmählich verschluckte. Das rote Leuchten verschmolz mit dem mal grau, mal grün, mal blau schimmernden Wasser, um schließlich alle Farben aufzugeben, das Feld für die nächtliche Schattenwelt zu räumen. Ein Schauspiel, das alltäglich und nicht weiter beunruhigend war, denn am nächsten Morgen würden die Sonne, das Licht und die Farben mit neu erstarkter Kraft zurückkehren. Wie aber würde es sein, wenn die Dragowiten den Sonnenstein fanden? Würde ewiges Licht über die Welt kommen oder ewige Finsternis?
»Lehnt Euch nicht zu weit vor, Monsieur Armand, Ihr könntet hin-unterfallen. Und wozu? Das Versinken der Sonne könnt Ihr doch nicht aufhalten!«
Dom Frollos Stimme traf mich wie ein Dolchstoß. Ich zuckte zusammen und hätte tatsächlich um ein Haar das Gleichgewicht verloren.
Als ich mich umdrehte, erwartete mich ein noch größerer Schreck.
Der Archidiakon, offenbar auf dem Weg zu seiner Hexenküche, war nicht allein. Neben ihm standen zwei andere Männer, deren Gesichter unter Hutkrempen verborgen lagen. Ich fühlte mich an meinen ersten Abend hier oben erinnert, als ich Dom Frollo in Begleitung vor Jacques Charmolue und Gilles Godin angetroffen hatte. War dies der Augenblick, in dem der Notar mich des Mordes bezichtigte?
»Bei Unserer Lieben Frau, was seid Ihr blass!« sagte Frollo und trat mit den beiden anderen näher. »Ist Euch nicht wohl? Oder sitzt Euch noch immer der Schreck von gestern im Genick?«
Nun fiel das verlöschende Licht der Sonne auf die drei Gesichter, und erleichtert stellte ich fest, daß ich Frollos Begleiter nicht kannte. Doch seine Worte waren Anlass zu neuer Beunruhigung. »Was meint Ihr, Domine?«
»Die Leichen, die Monsieur Falcone Euch vorgeführt hat, nur weil Ihr vorgestern zufällig auf der Müllerbrücke gewesen seid. Ich hör-te zufällig davon. Die Leichenkammer kann einem schon gehörig die Laune verderben, nicht?«
»Ihr kennt sie?«
»Ich habe sie einmal zu Studienzwecken mit dem Herrn Doktor Coictier besichtigt, dem Leibarzt Seiner Majestät des Königs.«
Dabei wies Frollo auf einen der beiden Männer, der etwa fünfzig Jahre zählte und ein Gesicht hatte, das kein Lächeln kannte. Er trug, wie auch sein Gefährte, einen langen schiefergrauen, mit Rehfell gefütterten Rock und eine Mütze aus demselben Material.
Frollo stellte mich als seinen fleißigen Kopisten vor und kam dann zu dem zweiten Mann. »Das ist …«
»Nennt mich einfach Gevatter Tourangeau«, sagte der Fremde und deutete eine sehr knappe Verbeugung an. »Ich bin nur ein demütiger Schüler angesichts der erhabenen Künste, über die Magister Claude gebietet.«
Er war der älteste der drei, ein kränkelnder Greis von vielleicht sechzig Jahren. Obwohl mittelgroß, wirkte er kleiner, weil seine Zipperlein ihn krumm hielten. Das graue Gesicht mit der vorspringenden Haken-nase war faltig und drohte mit dem Altern seine einst festen Konturen zu verlieren. Dennoch lag in den herrischen Zügen und auch in seiner Stimme eine große Kraft, und die zur Schau getragene Leutseligkeit schien Schärfe und Strenge zu verdecken. Unter der hohen Denker-stirn funkelten aus tiefen Höhlen wache Augen, die sich nichts entgehen ließen. Als der prüfende Blick auf mir ruhte, bekam ich eine Gän-sehaut. Mir war, als stünde ich vor den Schranken eines Gerichts oder vor einem Arzt, der über Leben und Tod zu befinden hat.
»Die Sonne erholt sich im Schatten der Nacht«, sagte Frollo. »Auch Euch wird ein wenig Erholung gut tun, Armand. Geht in eine Schenke und trinkt kräftigen Wein, das wird Euch Farbe und guten Schlaf einbringen.« Er drückte mir ein paar Sols in die Hand und wünschte mir eine gute Nacht. Anschließend verkroch er sich mit Coictier und Tourangeau in den hintersten Winkel des Nordturms.
Einen Augenblick war ich versucht, ihnen nachzuschleichen, sie zu belauschen. Der Leibarzt des Königs! In Frollos Zelle mochten wichtige Unterredungen stattfinden oder – vielleicht noch wichtiger – geheime Experimente,
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