Im Schatten von Notre Dame
ganze Kompanie Soldaten herbeirufen und in Stellung bringen können. Die königlichen Schützen haben uns erwartet, waren vor uns da.«
Mathias zog die Stirn kraus, kratzte mit der linken Hand über seine Bartstoppeln und steckte den Dolch weg. »Hm, da ist was dran. Dann sind wir so schlau wie zuvor, nämlich gar nicht. Was noch schlimmer ist: Es gibt keine Möglichkeit, den Verräter aufzuspüren.«
»Doch!« rief la Esmeralda zu unser aller Überraschung. »Ich werde den Hauptmann der Schützen aushorchen, wer die Soldaten alarmiert hat.«
»Wieso meinst du, das könnte dir gelingen, Tochter?«
»Du solltest meine Wirkung auf Männer nicht gering schätzen, Vater.«
»Das tu ich nicht, aber ein königlicher Hauptmann ist nicht einfach zu becircen.«
»Der schon, jedenfalls von mir. Er war bereits Feuer und Flamme, als er mich vor dem Buckligen rettete. Sein Name ist Phoebus des Châ-
teaupers, und er wird sicher überglücklich sein, mich wieder zu sehen.«
Jetzt wußte ich, weshalb mir der geschniegelte Offizier bekannt vorgekommen war.
»Hat er dich am Floß nicht erkannt?« fragte Mathias zweifelnd.
»Kaum. Er hatte genug damit zu tun, seine Männer anzutreiben.«
»Dann ist es einen Versuch wert«, befand der Herzog. »Solange wir den Verräter nicht kennen, laufen wir Gefahr, daß all unsere Pläne durchkreuzt werden. Kennen wir ihn aber, sind wir im Vorteil, haben wir doch auch eine Laus im Pelz des Feindes.« Er trank einen Schluck und sah mich über den Rand seines Glases an.
La Esmeralda stützte ihr Kinn auf eine Hand und blickte mich ebenfalls an. »Es kann für den Gadscho gefährlich sein, nach Notre-Dame zurückzugehen, vor allem nach dem, was heute geschehen ist. Dom Frollo weiß von seinem Verhör im Châtelet, und vielleicht hat ihn auch bei dem Abenteuer in der Conciergerie jemand erkannt. Wie gefährlich der Archidiakon werden kann, habe ich am eigenen Leibe erfahren, als er und sein buckliger Helfer über mich herfielen.«
»Und doch habt Ihr Quasimodo zu trinken gegeben«, sagte ich.
»Er konnte nichts dafür. Der Glöckner ist wie Zoltan, tut, was sein Herr ihm befiehlt. Außerdem kann es nie von Schaden sein, in den feindlichen Reihen Freunde zu haben.«
Ich straffte mich, um meinen Worten die angemessene Würde zu verleihen. »Ein solcher Freund bin auch ich. Mag sein, daß Dom Frollo einen Verdacht gegen mich hegt und mit mir spielt. Ich aber bin gewarnt und darauf vorbereitet. Kehre ich nicht in die Kathedrale zu-rück, bin ich unnütz geworden, ein Bauer, der aus dem Spiel geflogen ist.«
Und genau das wollte ich nicht. Warum? Ich kann nicht zu meiner Ehre behaupten, daß mir das Schicksal der Welt so sehr am Herzen lag. Es war mehr ein inneres Anliegen, eine Sache, die mich und meinen Vater betraf. Und Colette. Ich wollte ihr helfen, wollte in ihrer Nähe sein.
»Eine tapfere Entscheidung, Armand«, sagte Villon. »Aber seid auf der Hut. Noch kennen wir weder den Verräter noch den Schnitter und auch nicht den geheimnisvollen Bogenschützen.«
»Was für ein Bogenschütze?« fragte Mathias, und ich berichtete von meinem geheimnisvollen Beschützer.
»Er scheint auf unserer Seite zu stehen«, meinte der Herzog.
»Wirklich?« Villon schien voller Zweifel. »Ich glaubte erst, er sei einer von euch Ägyptern, aber das war ein Irrtum. Ein Dragowit wird er kaum sein, und ein Muschelbruder ist er auch nicht.«
»Vielleicht gehört er zu den königlichen Schützen«, warf la Esmeralda ein.
»Die Schützen heute verschossen Pfeile mit grünem Gefieder.« Ich wußte es genau, hatte sich das Bild der getroffenen Colette doch unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt. »Die meines unsichtbaren Helfers waren mit blauen Federn geschmückt.«
»Mag sein, er gehört zu einer anderen Kompanie«, sagte die Ägypterin und wußte selbst, daß es nicht mehr als eine Spekulation war.
»Auch das kann mir dieser Hauptmann Phoebus vielleicht verraten.«
Wir beendeten die Beratung. Villon mußte zu den Seinen zurückkehren und ihnen die traurige Nachricht vom Tod ihrer drei Brüder überbringen. Und für mich wurde es Zeit, mich in meiner Zelle an die Bücher zu setzen, bevor sich Dom Frollo wunderte, was ich so lange am Châtelet trieb. Falls er sich wunderte.
Kapitel 5
Gevatter Tourangeau
Den restlichen Tag und den gesamten folgenden verbrachte ich in fiebriger Anspannung. Schuld war die Ungewissheit über Colettes Zustand, darüber, ob sie überhaupt noch am Leben war.
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