Im Schatten von Notre Dame
Versuche in den hermetischen Künsten.
Ich ließ den Plan fallen. Die Gefahr der Entdeckung war zu groß, nachdem Frollo mir hier oben begegnet war. Ich beschloß, die Gelegenheit zu nutzen, um zum Tempel aufzubrechen. Der Archidiakon war beschäftigt und somit nicht imstande, mich zu verfolgen.
Mit der Abenddämmerung kam die Kälte. Ich knöpfte meinen Rock zu, als ich zwischen den verfallenen Häusern stand und mich fragte, wo der Eingang zu Villons unterirdischem Refugium lag. Plötzlich lö-
sten sich Schatten aus der Finsternis, sprangen mich an und stießen mich zu Boden. Rohe Hände pressten sich auf meinen Mund, als wollten sie mich ersticken.
»Keinen Laut, oder du kriegst mehr Luft in deinen Hals, als dir lieb ist!«
Der Druck einer Dolchspitze an meiner Kehle verlieh der flüsternd vorgebrachten Drohung große Glaubwürdigkeit. Ich riß die Augen auf und starrte die Kerle an, die mich überfallen hatten. Kräftige Gesellen mit Schwertern, Dolchen und Äxten. Einer trug sogar einen Morgenstern, als befinde er sich auf einem Turnierplatz. Eine Räuberbande, fuhr es mir durch den Kopf. Oder gar Mörder?
»Er ist es, der junge Herr!« sagte der Mann mit dem Morgenstern.
»So lasst ihn doch los!«
Das fand ich schon besser und war nicht nur etwas beruhigt, sondern auch angenehm überrascht, als mir einer der Burschen beim Aufstehen half. »Verzeiht, Messire, in der Dunkelheit erkannten wir Euch nicht sogleich. Ist Euch etwas zugestoßen?«
»N-nein«, sagte ich, verwirrt angesichts der plötzlichen Freundlichkeit. Dann erst kam mir zu Bewußtsein, daß die, die ich suchte, mich gefunden hatten.
»Schön«, befand der Anführer dieser seltsamen Nachtstreife. »Philebert wird Euch fahren.«
Philebert war der mit dem Morgenstern. Er brachte mich in das unterirdische Labyrinth und führte mich in einen Raum, wo Vil on mit den Italienern über einem frischen Weizenbrot und einer Lauchsuppe saß.
»Ah, wir haben schon auf Euch gewartet, Armand«, rief Villon und trug Philebert auf, für mich einen Teller und einen Löffel zu bringen.
»Ihr seht ein wenig mitgenommen aus.«
»Euer Monsieur Philebert und seine Kameraden haben mich ein wenig mitgenommen, und zwar unsanft in den Schmutz.«
»Wir müssen besonders vorsichtig sein, so lange wir nicht wissen, wer der Verräter ist und was er über unser Quartier weiß. Nun, Armand, was bringt Ihr …«
»Wie geht es Colette?« platzte es aus mir heraus. Ich hätte ihn wohl auch unterbrochen, wenn von seiner Frage das Schicksal der Welt ab-gehangen hätte.
»Colette ist gegen Mittag erwacht. Sie ist noch längst nicht wiederhergestellt, aber dem Tod entronnen.«
»Ich muß zu ihr«, stammelte ich, ergriffen von Glück. »Ich muß sie sehen!«
»Vielleicht später, Armand.« Villon wies auf die Bank, auf der er saß.
»Jetzt setzt Euch, esst und sprecht mit uns. Marc Cenaines Tochter bedarf der Schonung, und Ihr müßt jedes Wort wohl überlegen, das Ihr zu Colette sprecht.«
Zögernd nahm ich Platz und fragte Villon, wie dies zu verstehen sei.»Über Cenaine gibt es unerfreuliche Neuigkeiten. Meine Späher haben gemeldet, daß gestern abend mehrere verhängte Wagen den Justizpalast verließen. Vermutlich hat man Cenaine fortgebracht.«
»Wozu brauchte man mehrere Wagen?«
»Auf diese Weise wollten die Dragowiten ihre Spur verwischen, und es ist ihnen leider gelungen.«
Ein Hustenkrampf schüttelte Villon. Er krümmte sich, spie Suppe und Blut über den ganzen Tisch. Sein ausgemergelter Leib schien sich zu weigern, Nahrung aufzunehmen, als sei jeder Löffel Suppe pure Verschwendung an einen Todgeweihten. Mir versetzte es einen Stich ins Herz. Am liebsten wäre ich aufgesprungen, um meinem Vater beizustehen. Aber was hätte ich tun sollen?
Endlich hatte er sich wieder gefangen und sagte: »Die Schwimme-rei gestern hat mir nicht gut getan. Habt Ihr wenigstens etwas Erfreuliches zu berichten, Armand?«
Ich stellte den roten Holzdrachen auf den Tisch. »Das wolltet Ihr doch sehen, Maître Avrillots Abschiedsgeschenk.«
»Ouroboros«, sagte Villon andächtig und drehte die Figur, um sie im Licht der Öllampen von allen Seiten zu betrachten. »Welchen Hinweis wollte Avrillot uns geben?«
»Vielleicht es gibt diesen drago in Notre-Dame«, meinte Atalante, dessen verletztes Bein mit einem Verband umwickelt war.
»Ich bin dort schon allerlei Merkwürdigkeiten begegnet, aber noch keinem Drachen«, entgegnete ich.
»Ich meine ein Abbild von dem
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