Im Schatten von Notre Dame
drago.«
Villon nickte heftig. »Das könnte sein, ein guter Gedanke. Eine Skulptur oder ein Bildnis mit diesem Ouroboros könnte den Sonnenstein verbergen oder zumindest einen Hinweis auf sein Versteck liefern. Ich hatte Avrillot über Euch unterrichtet, Armand, er sollte ein wachsames Auge auf Euch werfen. Als er Euch in seiner Todesstunde erblickte, wußte er, daß seine letzte Botschaft mich über Euch erreichen würde. Aber wo in Notre-Dame ist solch ein Ouroboros abgebil-det?« Als niemand sich an ein entsprechendes Bildnis erinnern konnte, sagte der König der Muschelbrüder: »Leonardo, holt Eure Zeichnungen von Notre-Dame. Vielleicht finden wir den Drachen dort!«
Leonardo winkte ab und tippte an seinen Kopf. »Ich habe alles hier drin. Was ich einmal gezeichnet habe, vergesse ich nie. Dieser Ouroboros ist bestimmt nicht darunter.«
»Ein geheimer Platz in Notre-Dame vielleicht«, schlug Tommaso vor.
»Seht Euch genau in Notre-Dame um«, sagte Villon zu mir. »Ich kann meine Späher in die Kathedrale schicken, kann Leonardo dort jede Skulptur und jedes Bildnis zeichnen lassen, aber Ihr, Armand, könnt als Kopist des Archidiakons auch auf den Türmen nachsehen, dort, wo wir nicht hinkommen.«
Ich versprach, mein Möglichstes zu tun.
»Das ist gut«, hüstelte Villon. »Wir müssen endlich einen Schritt vorankommen, besonders nach dem Unglück mit Marc Cenaine.«
»Ist er wirklich ein Gefangener der Dragowiten?« fragte Leonardo. »Das Eingreifen der königlichen Schützen und der Umstand, daß mehrere Wagen eingesetzt wurden, um ihn fortzubringen, deuten auf etwas anderes hin. König Ludwig ist dafür bekannt, daß er missliebige Personen weggesperrt. Man sagt, in der Bastille hängen seine Feinde in eisernen Käfigen wie Vögel.«
»Die Dragowiten haben großen Einfluß, auch in der unmittelbaren Umgebung des Königs«, seufzte Villon. »Auch wenn es nach einem Geheiß Ludwigs aussieht, können dahinter die Dragowiten stecken.«
»Was Ihr über den Einfluß der Dragowiten sagt, stimmt. Auch der Leibarzt des Königs scheint mit ihnen im Bunde.« Ich berichtete von meiner Begegnung auf der Turmgalerie.
Villon horchte auf. »Jacques Coictier, der alte Fuchs, ist dafür bekannt, den abergläubischen, ängstlich auf seine Gesundheit bedach-ten König auszunehmen, wo es nur geht. Und Ludwig, der sonst so gerissen ist, den man sogar die Große Spinne nennt, läßt sich für jedes angebliche Wundermittel Gold und Titel aus der Nase ziehen. Coictier hat’s sogar geschafft, daß sein Neffe Pierre Versé zum Bischof von Amiens ernannt wurde. Gut möglich, daß Coictier der Verbindungs-mann zwischen den Dragowiten und dem König ist.«
»Der Großmeister?« fragte ich und erinnerte mich mit Schaudern an die Zusammenkunft der Tempelritter.
Villon war in dumpfes Brüten versunken, hatte meine Frage aber ge-hört und sagte endlich: »Ja, der Großmeister! Je länger ich’s mir überlege, desto wahrscheinlicher will es mir erscheinen. Er besitzt den Einfluß, die Macht, die Möglichkeiten und die nötige Verschlagenheit.
Ich werde das prächtige Haus, das er sich mit dem Geld des Königs an der Rue Saint-André-des-Arcs erbaut hat, überwachen lassen. Gut, daß wir Armand in Notre-Dame haben. Es paßt wirklich alles zusammen!« Er ballte die Rechte zur Faust und schlug sie mit lautem Klatschen in die Linke.
Gespannt beugte ich mich vor. »Was wisst Ihr noch über Coictier?«
»Er ist nicht nur des Königs Leibarzt, sondern zugleich königlicher Rat, was seinen Einfluß auf Ludwig gewiß nicht schmälert. Und er ist der Vorgesetzte Marc Cenaines. Vor sieben Jahren war Coictier noch gewöhnlicher Schreiber in der Rechnungskammer, brachte es durch Ludwigs Gunst aber schnell zum Vizepräsidenten, und seit letztem Herbst ist er Erster Präsident der Kammer, aber von der lästigen Pflicht, die Amtsgeschäfte zu führen, befreit. Außerdem sitzt der feine Doktor in der Verwaltung des Justizpalastes und der Conciergerie.«
Wir waren uns einig, den geheimnisvollen Großmeister der Dragowiten gefunden zu haben. Villon ließ einen Krug edlen Morillons bringen, um den hübschen Erfolg, wie er es nannte, zu begießen. Fast kam bei dieser ernsten Unterredung so etwas wie eine freundliche, heitere Stimmung auf. Nur Leonardo blieb verschlossen. Er hatte die Ellbogen auf die Tischplatte und seinen hellen Lockenkopf in beide Hände ge-stützt und verschmähte den süß duftenden Morillon. Schließlich fragte Tommaso seinen
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