Im Schatten von Notre Dame
Leonardo schien dem Zigeuner nicht zu trauen, sonst hätte er meine Begegnung mit dem König und seinem Leibarzt nicht verschwiegen. Je länger ich über diese verworrene Schachpartie nachdachte, desto grö-
ßer wurde meine Gewissheit, daß Colette für Mathias nicht nur eine Anvertraute, sondern auch eine Geisel war. Marc Cenaine konnte der Schlüssel zu den Dragowiten sein, zum Geheimnis des Sonnensteins, und Colette war vielleicht der Schlüssel zu ihrem Vater. Damit war sie nicht mehr als eine Bauernmagd in dem großen Spiel, nur von Bedeutung, bis sie ihre Aufgabe erfüllt hatte und geopfert werden konnte.
Ein Gedanke, der mein Herz zum Rasen brachte.
Colette lag auf einer Strohmatratze allein im Innern des Wagens. Ein starker Geruch, süß und herb zugleich, kitzelte meine Nase. Er entströmte einem mit Wasser gefüllten irdenen Schälchen, das auf einem bronzenen Dreifuß über einer Kerze stand.
Mathias bemerkte meinen fragenden Blick und erklärte: »Schari hat in das Wasser Kräuter gestreut, die das Wohlbefinden fördern.«
Colette schien zu schlafen, den Schlaf der Erholung, wie ich hoffte.
Ihre Brust hob und senkte sich leicht, ihre geschlossenen Lieder zitterten kaum merklich wie Gräser in einer lauen Brise. Sorgenvoll betrachtete ich ihr eingefal enes, blasses Gesicht. Hätte man es mir nicht anders berichtet, ich hätte nicht an eine Besserung ihres Zustands geglaubt.
»Wenn sie wach ist, fragt sie nach ihrem Vater, jedes Mal«, erklärte der Herzog. »Die Antwort kann ihr nicht gefallen. Es wäre ihrer Ge-sundung sicher förderlich, würde Cenaines neues Gefängnis bald gefunden.«
Der alte Fuchs sprach voller Mitgefühl, und doch benutzte er Colette als Waffe, als Druckmittel. Das erzürnte mich, und am liebsten wäre ich ihm an die Gurgel gefahren.
Leonardo beugte sich über Colette, ertastete ihren Puls, lauschte auf ihren Atem und ihren Herzschlag.
»Was tut Ihr?« fragte ich mit einiger Empörung über diese Vertrau-lichkeiten. »Seid Ihr Arzt?«
»Über das, was im menschlichen Leib vor sich geht, weiß ich bestimmt so viel wie mancher ausgewiesene Arzt. Es freut Euch sicher zu hören, daß Colette einen gesunden Schlaf schläft.«
»Wenn Ihr soviel von der Medizin versteht, warum habt Ihr Euch gestern nicht selbst um Colette gekümmert und die Arbeit dieser Schari überlassen?«
»Will man sich in einer Kunst verbessern, ist es immer gut, anderen Künstlern bei der Arbeit zuzuschauen. Besonders in den wissenschaft-lichen Künsten.«
Das klang fast, als sei Colettes Wohlergehen für ihn nicht von Belang, als sähe er in ihr nicht mehr als eine der Leichen, die er in jenem scheußlichen unterirdischen Raum aufschnitt. Wütend fragte ich: »Ihr tut wohl alles für die Wissenschaft, wie?«
»Sagen wir, vieles. Nur durch Fortschritt in den Wissenschaften kann die Not der Menschen besiegt werden, solange sie noch auf dieser Erde wandeln müssen.«
»Fortschritt ist kein Wert an sich«, wandte ich ein. »Wenn er den Menschen schadet, ist er zu verdammen.«
»Was einzelnen schadet, kann vielen nützen.«
Sollte das eine Rechtfertigung dafür sein, daß Leonardo Colette beinahe hätte sterben lassen? Ich kam nicht dazu, meine Verachtung für ihn kundzutun. Unser Gespräch mußte zu dem schlafenden Geist durchgedrungen sein. Colette wälzte sich unruhig hin und her, hielt schützend die gekreuzten Arme vor ihren Leib und schrie: »Nein, lasst mich! Bitte, bitte, tut mir nichts! Nicht …«
Aus dem Schreien wurde ein Wimmern, Tränen rannen aus den geschlossenen Augen. Sie schlief noch immer und träumte, doch der Friede hatte ihren Schlaf verlassen. Angst, wie ich sie größer noch bei keinem Wachenden gesehen hatte, verzerrte ihre Züge. In die Angst mischten sich andere Regungen, Trauer und Scham. Welcher Alptraum auch immer sie heimsuchen mochte, wirkliches Erleben konnte nicht schrecklicher sein.
»Kommt, Armand, am besten lassen wir sie allein. Sie muß die Schrecken ihrer Erinnerung aus eigener Kraft überwinden. Zur Zeit können wir nichts weiter für sie tun.«
Leonardo, dessen Bemerkung über die Schrecken von Colettes Erinnerung mich verwirrte, zog mich mit sanfter Gewalt aus dem Wagen.
Mathias lud uns zum Essen ein. Draußen briet ein Kalb über dem Feuer und verströmte verlockende Düfte. Ich schloß die Wagentür, nachdem ich der Schlafenden einen langen, sehnsüchtigen Blick zugewor-fen hatte. Ungern ließ ich sie allein mit ihrem schrecklichen Traum und war doch
Weitere Kostenlose Bücher