Im Schatten von Notre Dame
Zigeunerlager.
»Colette wurde in die Obhut des Herzogs gebracht. Die Bettler hätten ihren König gestürzt, hätte er ihnen die Schenke noch länger vorenthalten. Clopin Trouillefou ist nicht besser dran als Euer neuer Bekannter Ludwig. Welcher König, der seinen Soldaten das Saufen und Huren verbietet, kann seine Krone lange tragen?«
Auch die Zigeuner vertrieben die Geister der Nacht mit Musik und Gesang, doch die bewaffneten Posten am Rande der Wagenburg blickten aufmerksam zu den Bettlern hinüber. Sie starrten uns finster entgegen und der Feuerschein verlieh den Klingen ihrer Waffen einen blutigen Glanz. In Villons Unterschlupf hatte ich die fremdländischen Männer mit ihren teils unbekannten Waffen kämpfen sehen, tapfer und folgsam, ohne Rücksicht auf das eigene Leben. Sie mochten viele Arten kennen, einen anderen zu töten, blitzschnell und unendlich langsam, gnädig und qualvoll. Ich war auf einmal sehr froh, daß Villon mir Leonardo als Begleiter mitgegeben hatte. Die Posten erkannten uns und ließen uns passieren.
»Warum sucht man sich einen Bundesgenossen, wenn man ihm ständig misstraut und ihn schärfer bewachen muß als den ärgsten Feind?«
fragte ich im Flüsterton, damit die Zigeuner – oder Ägypter oder was immer sie letztlich sein mochten – mich nicht verstanden.
»Weil man auf ihn angewiesen ist.« Leonardo zeigte in die Runde, wo Mathias Hungadi Spicalis Untertanen ihren abendlichen Geschäften nachgingen, wo in bunte Schals gehüllte Frauen kochten und Kinder plärrten, dunkelbärtige Männer mit Ringen in den Ohren die Wagen oder ihre Waffen ausbesserten. »Seit Mathias sein Volk vor zwei Jahren durch das Gibard-Tor nach Paris führte, hat es sich wundersam vermehrt. Immer wieder sind Zigeunergruppen in die Stadt gesickert und haben die Armee des Herzogs verstärkt, und doch ist seine Streitmacht gering im Vergleich zu den Hunderten und Aberhunderten von Bettlern, die der windige Clopin im Ernstfall aufbringen kann. Da ist es nur natürlich, daß Mathias den Bettlerkönig zu seinem Kreuzbruder machte.«
»Zu was?«
»Mathias und Clopin wurden zu Brüdern des Kreuzes, in einer alten, feierlichen Zeremonie der Zigeuner, die zwei Männer wie Brüder verbindet. Dabei schneidet sich jeder der beiden am frühen Morgen und mit nüchternem Magen ein Kreuz in den rechten Zeigefinger. Dieser Finger wird in den Mund des anderen gesteckt, der das Blut zu trinken hat. Auf diese Art sind Glück und Unglück der beiden auf ewig miteinander verbunden, und einer hat dem anderen beizustehen.«
Ich stellte mir vor, wie fremdes Blut auf meiner Zunge schmeckte, und spie aus. »Eine schöne Bruderschaft, in der einer den anderen so mißtrauisch beäugt!«
»Abel hätte länger gelebt, hätte er seinen Bruder Kain mißtrauisch beäugt. Doch still, da kommt einer der beiden, wenngleich ich nicht weiß, ob er Kain oder Abel ist.«
Flankiert von Milosch und Yaron, trat uns der Herzog von Ägypten und Böhmen entgegen. Das Licht der Lagerfeuer färbte seine sonst gelbe Haut rotbraun, wie altes Leder, das brüchig geworden und von zahllosen Rissen durchzogen ist. Unendlich alt und müde erschien er mir auf einmal, als habe er das Lebenselixier, nach dem die Alchemisten so verzweifelt suchten wie Noah auf seiner Arche nach einem trockenen Stück Erdboden, bereits vor Äonen gekostet, ohne Geschmack an seiner Wirkung zu finden. Konnte das ewige Leben einem Menschen nicht mehr einbringen, als daß er den Tod als Gnade betrachtete?
Leonardo entbot ihm seine Grüße und die des Magisters Villon.
Mathias reckte den Kopf vor wie ein Vogel auf der Suche nach Beute.
»Habt Ihr Neuigkeiten für mich?«
»Nein«, sagte Leonardo rasch, bevor ich meine Begegnung mit dem seltsamen Gevatter Tourangeau erwähnen konnte. »Noch wissen wir nicht, wohin man Marc Cenaine gebracht hat.«
»Warum schickt Villon mir dann seine Boten?«
Leonardo lächelte und warf mir einen schrägen Blick zu. »Weil einer der Boten sich ganz besonders zu Cenaines Tochter hingezogen fühlt.«
Ein paar winzige Falten mehr gruben sich zwischen die anderen Risse im Gesicht des Herzogs und verrieten seine Erheiterung. »Das Mädchen erholt sich langsam. Kommt mit!«
Während wir Mathias zu einem etwas abseits stehenden Wagen folgten, fragte ich mich, ob er Colette aus reiner Fürsorge in seinem Lager aufgenommen hatte. Wohl kaum, wenn er seinem Verbündeten Villon nicht mehr Vertrauen entgegenbrachte als dem Bettlerkönig. Und auch
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