Im Schatten von Notre Dame
erleichtert, daß sie Gevatter Tod entronnen war.
Der Italiener und die Zigeuner waren schon zwischen zwei hohen Zelten verschwunden. Als ich eilig die kurze Treppe vor dem Wagen hinabstieg, flitzte ein weißes, weiches Etwas zwischen meine Füße, brachte mich aus dem Gleichgewicht und zu Fall.
»So ein Ärger, so eine Schande!« schimpfte neben mir eine kleine Gestalt, ein Kind mit seltsam tiefer Stimme. Ich schüttelte die Benommenheit ab und erkannte Rudko, den Zwerg. »Seid nicht gram, Herr, ich wollte Euch nicht umstürzen.«
Ich zog mich an der Treppe hoch und betrachtete den kleinen Mann, der mir gerade bis zum Gürtel reichte. Eine Fellkappe saß schief auf seinem viel zu großen Schädel, so daß schwarze Haarsträhnen hervorlugten. Sein abgewetztes Lederhemd und seine wollene Hose waren dunkel, sei es von Natur, sei es durch die Vielzahl an Flecken, die seine Kleidung bedeckten.
»Ihr wart das nicht. Ihr seid klein, aber nicht so klein. Und vor allen Dingen nicht so weiß!«
»Djali brachte Euch zu Fall, aber ich war es, der sie entkommen ließ.«
Er schnitt eine Grimasse. »Wußte ich denn, daß sie den beiden nach-laufen würde?«
»Wem?«
»Na, la Esmeralda und ihrem Popanz.«
»Sprecht Ihr von Pierre Gringoire?«
»Von wem sonst sollte ich wohl sprechen? Er sollte auf Djali aufpassen, weil la Esmeralda eilig fort mußte. Und was tut der lächerliche Kerl? Er läuft einfach davon, seiner Angetrauten nach. Und was tut die Ziege, sie folgt beiden!« Rudko kniff ein Auge zu und sah mich verschwörerisch an. »Wenn Ihr mich fragt, hat unsere schöne Esmeralda ein Stelldichein, und der Popanz will sie bespitzeln. Er glaubt immer noch, daß er für sie mehr sein könnte als der Narr, der sich ihr Gemahl nennen darf: Dabei …« Der Zwerg hielt inne, tat einen aufgeregten Sprung und zeigte zum Bettlerlager. »Da läuft das Mistvieh, hinaus in die Schattenwelt der Nacht. Bei den Dämonen der Finsternis, mich dünkt, wir werden Djali niemals wieder sehen. Das untreue Biest! Da halte ich mich lieber an meinen Zoltan, der kommt stets zu seinem Herrn …«
Ich achtete nicht weiter auf sein Gebrabbel. Auch ich hatte die Ziege im Licht der Feuer erspäht. Sie lief zu der Gasse, durch die Leonardo und ich den Wunderhof betreten hatten. Ich hetzte ihr nach, vorbei an den Wachen des Herzogs, die auf Ankömmlinge zu achten hatten und nicht auf Männer, die das Zigeunerlager verließen. Ich lief an einem Rudel zechender Bettler vorüber, sprang über einen bereits selig schlafenden Einarmigen hinweg und tauchte in die Gasse ein, die Djali verschluckt hatte.
Mich beseelte der Gedanke, die Ziege aufzuspüren und mit ihr la Esmeralda. Rudko hatte von einem Stelldichein gesprochen. Ich glaubte zu wissen, wer auf die Zigeunerin wartete. Hatte sie nicht selbst gesagt, sie wolle diesen Hauptmann, Phoebus de Châteaupers, aushorchen?
Was sich bei diesem Treffen ereignete, was der Hauptmann ihr er-zählte, konnte wichtig sein. Ich war mir nicht sicher, ob Mathias das, was seine Tochter in Erfahrung brachte, mit uns, seinen Verbündeten, teilen würde. Deshalb wollte ich selbst dabeisein. Vielleicht war es hilfreich im Kampf gegen die Dragowiten und hilfreich für Colette.
Irgendwann wußte ich mir nicht mehr zu helfen. Ich sah keinen Menschen und keine Ziege. Vor mir und hinter mir krümmten sich die alten Häuser zu unförmigen Schatten, Ungeheuern gleich, die auf Beute lauern. Die Nacht hob den Unterschied zwischen totem Stein und lebendem Fleisch auf, so wie der Sonnenstein – sollte diese irrsinnige Geschichte wahr sein – den Unterschied zwischen Geist und Materie, zwischen Seele und Sünde aufheben konnte.
Nachdem ich den Wunderhof verlassen hatte, hörte ich bald nur noch das schnelle Stakkato meiner Schritte und als Begleitmusik meinen keuchenden, rasselnden Atem. Jetzt, da ich stehen blieb, verstummten die Schritte, aber mein stoßweiser Atem erschien mir um so lauter, ohrenbetäubend, als gehöre er gar nicht zu mir, sondern zu den Häu-serbestien rings um mich, die in ihrer Vorfreude auf frisches Fleisch geiferten. Und dann war mir, als hörte ich die Schatten sprechen. Ich spitzte die Ohren und hielt den Atem an.
»… bei mir an den Falschen geraten, du anhängliches kleines Mist-stück. Wenn du nicht gleich weiterläufst, reiß ich dir deinen Ziege-narsch auf, wie es der stärkste Bock nicht könnte. Los, nun mach schon.
Ja, kleine Djali, lauf, such deine Herrin. Lauf zur Esmeralda!« Ein Kichern
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