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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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Gefährten, ob er dem Wein abgeschworen habe.

    Leonardo schien den irdenen Becher mit dem rotschwarzen Inhalt erst jetzt zu bemerken, nippte daran und sagte: »Ich überlege die ganze Zeit, wer der andere Kerl war, den unser Freund Armand bei Frollo gesehen hat.«
    »Ich sagte doch, er nannte sich Gevatter Tourangeau.«
    In Leonardos Augen blitzte es auf. »Ganz recht, er nannte sich so.
    Aber wie heißt er mit richtigem Namen? Ihr selbst, Armand, habt an-gedeutet, daß Euch etwas an dem Mann seltsam vorkam.«
    »Er tat bescheiden, fast unterwürfig, doch mir erschien er wie ein Wolf, der den Schoßhund mimt.«
    Villons Interesse war erwacht, und er bat mich, diesen Tourangeau genauer zu beschreiben. Aufmerksam lauschte er meinen Worten, schickte dann Leonardo los, einen Kohlestift und Papier zu holen.
    Nach meinen Anweisungen zeichnete Leonardo den Mann, und ich staunte, wie gut er ihn traf, ohne ihn jemals gesehen zu haben.
    »Oh, ich habe ihn gesehen, zum Dreikönigsfest, als er die flämische Gesandtschaft empfing. Und nach dieser Erinnerung habe ich ihn gezeichnet.« Leonardo zeigte mit kohlegeschwärztem Finger auf das Bildnis. »Dies ist der Herrscher von Frankreich, unser guter König Ludwig, die Große Spinne!«
    Villon schlug sich gegen die Stirn, als habe er sich soeben selbst der Narretei überführt. »Leonardo hat recht, es ist der König. Ich hätte viel eher darauf kommen müssen, schon als Armand diesen Namen er-wähnte. Gevatter Tourangeau, daß ich nicht lache! So nennt man jeden Einwohner der Touraine oder der Stadt Tours. Und wer ist der be-rühmteste Mann, der dort wohnt?«
    »Ludwig der Elfte«, sagte Leonardo.
    »Seit letztem Jahr vergräbt er sich in seinem Schloß bei Plessis-les-Tours, als habe er plötzlich Angst vor der ganzen Welt«, fuhr Villon fort. »Niemand kennt den genauen Grund. Es heißt, er fürchte sich vor dem nahen Tod und habe das Schloß zur wehrhaftesten Festung Frankreichs gemacht. Als könne man so den Tod bezwingen!«
    »Die Große Spinne hat sich in ihrem eigenen Netz verfangen«, meinte Leonardo. »Wer so lange und so umfassend alles beherrscht wie Ludwig, hält sich irgendwann für unsterblich. Vielleicht sucht er gerade diese Unsterblichkeit bei Dom Frollo, dem Herrn der Schwarzen Künste.«
    Ich starrte den Italiener ungläubig an. »Glaubt Ihr etwa, der König habe sich in den Dienst der Dragowiten gestellt?«
    »Wir müssen mit allem rechnen.«
    »Vielleicht weiß Ludwig nicht, welch finsteres Spiel Frollo treibt«, sagte Villon. »Coictiers Macht über den König mag so groß sein, daß er ihm etwas vorgaukelt. Dann befände sich der König unter dragowi-tischem Einfluß, ohne es zu ahnen. Das müssen wir herausfinden.« Er gab mir den Holzdrachen zurück. »Verwahrt das Vermächtnis des Zö-
    lestiners, Armand, und berichtet mir sofort, wenn Ihr diesen Drachen in Notre-Dame entdeckt. Die Dinge spitzen sich zu, daran gibt es keinen Zweifel. Bald wird die Entscheidung fallen, und von Euch kann sie abhängen. Womöglich seid Ihr die wichtigste Figur in diesem Spiel!«

Kapitel 6
    Die Liebe und der Tod
    Die verwinkelten Gassen hallten wider vom Lärm des Hofes der Wunder, der erst nach Einbruch der Dämmerung zu wahrem Leben erwachte. Die Lagerfeuer warfen ihr flackerndes Licht über die Reste der alten, längst zu engen Stadtmauer. Wir hörten Gesang und Gejohle, noch bevor wir den Palast der Bettler und Gauner betraten, wo sich eine Vielzahl menschlicher und menschenähnlicher Kreaturen unter dem mondbeschienenen Firmament tummelte. Kaum hatten wir das brüchige, kotige Pflaster der Freistatt betreten, da umringte uns schon eine Krüppelschar, und der Hof der Wunder bewies die Rechtmäßigkeit seines Namens. Bucklige, krumme Leiber streckten sich. In trübe Augen trat ein gemeines Funkeln. Hände schossen aus leeren Ärmeln und reckten uns scharfe Klingen entgegen. Beine wuchsen aus Stümpfen, und Krücken verwandelten sich in drohend geschwungene Keulen.
    Mein Begleiter öffnete seinen Rock und zeigte eine Pilgermuschel vor, die an den inneren Samtbesatz genäht war. Das Bettelpack erkannte das Zeichen der Coquille und zog sich zurück. Enttäuschung zeichnete die gierigen, mit falschem Aussatz bemalten Fratzen. Ich wollte mich dem Turm mit seinen vielfach erleuchteten Fensterlöchern zuwenden, aus dessen Kellerschenke der Gesang weinseliger Stimmen und das helle Scheppern von Zinnbechern auf den Hof drang.
    Leonardo aber zog mich in die andere Richtung, zum

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