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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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weiß, wo das Gute ist? Seht her, diese Fliege!«
    Das Insekt, das sich heute morgen auf meinem Gesicht ausgeruht hatte, saß auf dem Rand seines Bechers. Mit einer schnellen Handbewegung fing er das Tier und schloß es in seiner Faust ein. Ich hörte die Fliege verzweifelt summen, ohne daß es ihr half.
    »Auch die Fliege strebt nach dem Licht wie wir Menschen. Und gerade dieses Streben, das Umherirren bringt sie in Gefahr, liefert sie schließlich der gefräßigen Spinne aus.«
    Er stand auf und schleuderte seine Gefangene in das Spinnennetz, das in einer Ecke der Zelle glitzerte. Die Fliege verfing sich in den hauchdünnen Fäden und verhedderte sich immer mehr, je wilder sie zu entkommen suchte.
    »Nun seht Ihr, Armand, wohin das Streben nach Freiheit führt. Es macht uns nicht frei, engt uns nur immer mehr ein, weil es nicht auf die himmlische Freiheit zielt.«
    »Ihr seid ungerecht, Dom Claude. Die Fliege ist nicht von selbst ins Netz geraten, sondern durch Eure Einwirkung.«
    »Na und? Weiß die Fliege, wer ich bin? Vielleicht hält sie mich für die Ananke der Natur, vielleicht auch für ihren Gott.«
    »Für … ihren … Gott?« wiederholte ich schleppend und starrte mein Gegenüber ungläubig an. »Maßt Ihr Euch an, Euch mit dem Schöpfer zu vergleichen?«
    »Keineswegs. Ich bin nur ein Mensch, kann Leben nur nehmen, nicht erschaffen. Und das ist gut so!« Abrupt wandte er sich zur Tür. »Schwerer Wein und schwere Gedanken vertragen sich nicht. Aber vielleicht denkt Ihr über unser Gespräch nach, wenn Euer Kopf wieder klarer ist.«
    Und wahrhaftig, als er mich allein zurückgelassen hatte, mußte ich mich anstrengen, meine Gedanken zu ordnen. Lange dachte ich über die Unterredung nach. Mir wurde deutlich, daß Dom Frollo sich mir offenbart hatte, stärker noch als tags zuvor im Südturm. Einem Unein-geweihten hätten seine Worte nicht viel gesagt, mir aber erschienen sie wie das tiefste Bekenntnis, zu dem ein Dragowit fähig war. Wollte er mir die Hand reichen, mich zur wahren Erkenntnis führen? Oder ahnte er, daß ich auf der anderen Seite stand? Hatte er die ΑΝΑΓΚΗ er-wähnt, um meine Reaktion zu beobachten?
    Mein Blick fiel auf die Fliege, deren Befreiungsversuche erlahmt waren. Sollte ihr Schicksal, ihre von Frollo herbeigeführte Ananke, mir eine Warnung sein? Eine haarige schwarze Spinne kroch vom Rand des Netzes her auf die Fliege zu, bereit, über ihr Opfer herzufallen. Ich fühlte mich wie die Fliege, gefangen im Netz eines übermächtigen Wesens. Aber wer war die Spinne?

Kapitel 6
    Maulwurfsaugen
    Zu ebener Erde war der Nebel um ein Vielfaches dichter als oben auf den Türmen von Notre-Dame. Als ich auf den Vorplatz trat und an der Fassade der Kathedrale hinaufsah, schwebten die Häupter der beiden mächtigen Glockentürme wie flüchtige Schemen über mir, unwirklich wie ein Traumgespinst. Und doch waren sie Realität, das wußte niemand besser als ich. Eben noch war ich dort oben gewesen und hatte mit Dom Frollo gesprochen, dem Mann des Glaubens, der den Glauben anprangerte, dem Mann Gottes, der, auch wenn er es ab-stritt, sich mit Gott verglich.
    Ich hatte es nicht länger auf dem Turm ausgehalten. Der Anblick der zerfleischten Fliege verhieß eine düstere Zukunft, jedenfalls für einen wie mich, der sich nicht zur Ansicht der Katharer durchringen und den Tod nicht als Erlöser freudig umarmen mochte.
    Mein Ziel war der Tempelbezirk, ich wollte zu Villon. Vielleicht wuß-
    te er, welche Antworten ich Leutnant Falcone bringen sollte. Und vielleicht warf ein Gespräch mit Villon auch Licht auf das düstere Schachbrett, auf dem ich seit Monaten umhergeschoben wurde. Ich hoffte, endlich zu erkennen, wer die weißen und wer die schwarzen Figuren waren.
    Nach ein paar Schritten über den Vorplatz blieb ich stehen. Zwischen den Ständen der Händler erblickte ich ein aus morschen Brettern zusammengehauenes windschiefes Galgengerüst, das herumstreunen-de Kinder oder andere Spaßvögel als Parodie auf den todbringenden Galgen drüben auf dem Grève-Platz errichtet hatten. Eine Strohpuppe hing schlaff in der faserigen Schlinge. Meine Gedanken verwandelten die Nebelschwaden in eine dichtgedrängte Menschenmenge, und ich sah la Esmeralda über den Köpfen baumeln, zu Tode gebracht von einer zweifachen Ananke, von den Dogmen des Glaubens und den nicht minder starren Buchstaben der Gesetze.
    »Im Schatten des Galgens gewinnt das Leben erst richtig Glanz, findet Ihr nicht, Monsieur Sauveur?«

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