Im Schatten von Notre Dame
mir bewußt, daß ich völlig nackt war.
Eilig streifte ich meine Kleider über, griff mir ein Wolltuch, in das ich einen Bimsstein und ein Stück Talgseife einschlug, und verließ den Turm. An einer flachen Uferstelle am Hôtel-Dieu, wo sonst die Wä-
scherinnen Kleidung und Bettzeug für Hospital und Domkapitel wuschen, entkleidete ich mich und stieg ins kalte Wasser. Auch wenn es mich mit eisigen Nadeln stach, tauchte ich mehrmals unter, um die durch den schlechten Wein verursachte Benommenheit abzuschütteln. Dann reinigte ich meinen Arm von der Gutenbergschen Schmiere. Der Nebel verhüllte den Fluss. Dumpfe Rufe der Schiffer drangen hin und wieder an mein Ohr, wenn der Schatten eines Handelsschiffs oder eines Fährboots durch die graugelbe Masse glitt.
Mein Frühmahl stand schon bereit, als ich auf den Turm zurückkehrte. Lustlos stopfte ich Weizenbrei und Anisgebäck in mich hinein und spülte es mit Ziegenmilch hinunter. Dann schlug ich meine Bü-
cher auf, doch meine Gedanken wanderten von den Kometen zur Falourdel, zu Maître Gaspard – und zu Leutnant Falcone. Ich hatte nur einen Tag, um mir Antworten für ihn zurechtzulegen, und nicht die geringste Ahnung, wie diese Antworten ausfallen sollten.
Zudem war mir keineswegs klar, wieweit ich Falcone vertrauen konnte. Zwar hatte er mich letzte Nacht vor dem Dasein als Krüppel, vielleicht gar vor dem Tod gerettet, aber konnte er nicht gleichwohl insgeheim zu den Dragowiten gehören? Frollos Bluttat in der Kupplerhöhle hatte mir gezeigt, daß er und die Seinen ihre Verbündeten töteten, sobald sie ihnen gefährlich werden konnten. Möglicherweise bedeutete Maître Gaspard eine Gefahr für die Dragowiten, und Falcones Auftritt in der Druckerei war ein wohlinszeniertes Schauspiel gewesen.
Je länger ich darüber nachsann, desto wirrer wurde alles. ›Weiß gegen Schwarz‹ hatte Villon den Kampf genannt, der sich innerhalb der Mauern von Paris abspielte. Aber das stimmte nicht, es gab keine klaren Fronten wie beim Königsspiel, keine der Farbe nach eindeutig fest-zulegenden Figuren. Alles verwusch zu einem trüben Grau, undurchsichtig wie der Nebel rings um Notre-Dame.
Am Nachmittag kam Claude Frollo überraschend in meine Zelle. Er stellte eine Korbflasche auf den Tisch und schüttelte sich. »Ein scheuß-
liches Wetter, es drückt einem aufs Gemüt und auf die Seele. Vor allen Dingen fährt es einem in die Knochen. Euer Kaminfeuer flackert nur recht dürftig, Monsieur Armand, etwas innere Wärme wird Euch nicht schaden. Ich habe hier eine Flasche südspanischen Weins aus Je-rez de la Frontera, ein guter, seltener Tropfen. Vielleicht habt Ihr auch einen Becher für mich.«
Was blieb mir übrig, als ihn zu bewirten? Ohne sein Misstrauen zu erregen, konnte ich mich kaum auf die Nachwirkungen von Falourdels Weinessig berufen, der meinen Schädel noch immer brummen ließ.
Also füllte ich zwei Becher mit dem rötlichen Getränk und ließ das klebrige, süße Nass durch meine Kehle rinnen. Es schmeckte gut, verführerisch gut, und gerade das gemahnte mich zur Vorsicht. Zu oft schon hatte man meine Zunge durch Wein zu lösen versucht.
Frollo blickte auf meine Bücher. »Wie steht’s mit den Kometen? Habt Ihr schon herausgefunden, ob sie mächtige Lenker des Schicksals sind oder ob wir bloß unsere eigenen Wünsche und Ängste auf sie übertragen?«
»Maître Gringoire hat vieles zusammengetragen, was ich erst sichten und ordnen muß«, antwortete ich ausweichend, um nicht eingestehen zu müssen, daß ich mich in letzter Zeit nur selten mit den Kometen beschäftigt hatte. »Es ist recht verwirrend, und ich werde kaum klären können, worüber sich große Geister streiten. Wer will wissen, mit welchen Mächten das Schicksal unsere Geschicke lenkt?«
Dom Claude trank von dem süßen Spanier, sah mich dann über den Rand seines Bechers an und sagte nur ein einziges Wort: »Ananke.«
Ananke! Meine Hände zitterten, und fast hätte ich etwas von dem Wein verschüttet.
»Ihr habt recht, Domine, es ist wirklich kalt hier. Ich werde mich um das Feuer kümmern.« Ich legte Holz nach und schürte die Glut, bis ich mich wieder gefangen hatte. Da fragte ich ihn: »Ananke, das ist griechisch, nicht wahr? Was bedeutet es?«
»Schicksal, aber auch Verhängnis, Fatalität, Zwang, Unausweich-lichkeit. Ein einziges Wort, das alles sagt, was ein Menschenleben bestimmt: der Kampf gegen das vierfache Verhängnis.«
»Ein vierfaches gleich?«
»Vier Zwänge engen den
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