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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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Menschen ein, und doch hat er drei davon, nennen wir sie die äußeren Fatalitäten, selbst geschaffen. Er braucht sie, um mit anderen Menschen zusammenzuleben, um nicht bloßes Einzelwesen im Strom der Zeit zu sein. So nötigt der Mensch sich selbst, und das ist sein Schicksal. Ich spreche von der Religion, dem Zwang der Dogmen, dem der Mensch sich beugt, weil er ohne Glauben nicht existieren kann. Um glauben zu dürfen, schränkt er sein eigenes Denken ein. Dann ist da die Gesellschaft, deren Gesetzeszwang sich der Mensch unterwirft, weil er andernfalls nur ein Tier wäre, wild und schutzlos zugleich. Wie die Dogmen sein Denken, so schränken die Gesetze sein Fühlen ein. Nicht zu vergessen die Natur, gegen die er tagein, tagaus zum Kampf antritt, indem er die Wälder rodet, die Erde pflügt und die Wildheit des Meeres mit Schiffen zu bezwingen sucht.
    Die Natur und die Elemente begrenzen seinen Willen. Im Kampf gegen diese drei Zwänge reibt der Mensch sich auf, um Mensch zu sein.
    Ist das nicht lachhaft?«
    Als Frollo diese Frage stellte, schien er alles andere als belustigt, eher ernst und beinahe verzweifelt. Erst sah er in seinen Becher, als läge die Wahrheit tatsächlich im Wein, dann richtete er die Augen auf mich, doch sein Blick ging durch mich hindurch in weite Ferne, jenseits von Notre-Dame und Paris.
    Mit einem tiefen Seufzer fuhr er fort: »Die höchste Ananke aber ist die innere, das menschliche Herz. Alle äußeren Zwänge mag der Mensch überwinden, an das, was sein Herz ihm befiehlt, ist er auf ewig gekettet, mag es auch noch so verhängnisvoll sein und mag er das Verhängnis auch durchschaut haben. Das Herz, dieser rohe Fleischklumpen in unserer Brust, herrscht über unser Leben wie König Ludwig über Frankreich. Kann der Mensch jemals edel und rein sein, wenn er sich nach einem Stück Fleisch zu richten hat, nach dem Rhythmus seines Pochens leben muß? Ist nicht die Erlösung von diesem Zustand das höchste Glück, der notwendige Schritt ins Himmelreich?«
    »Eure Worte, Dom Frollo, sind noch verwirrender als Gringoires Aufzeichnungen über die Kometen. Ihr prangert die Dogmen des Glaubens an und seid doch ein hochrangiger Vertreter der Kirche. Ihr tadelt die Unterordnung des Menschen unter die Gesetze, und doch seid Ihr als Untertan König Ludwigs gehalten, dieselben zu befolgen.
    Das ist ein Widerspruch!«
    »Natürlich, dieser Widerspruch regiert unsere Welt. Wie ich schon sagte, der Mensch reibt sich auf, um Mensch zu sein. Erst wenn diese Zwänge fallen, können die reinen Seelen sich wieder dem Licht zuwenden.«
    »Dann müßte die Welt aufhören zu existieren.«
    Frollo lächelte dünn. Genau das war die Schlussfolgerung, zu der er mich hatte bringen wollen. Nicht er drohte, die Ananke über die Welt zu bringen. Nein, nach seinen Worten war die Welt das Verhängnis des Menschen.
    Und hatte er damit so unrecht? Die Ananke des Glaubens hatte die Katharer und viele andere Gruppen auf den Scheiterhaufen gebracht.
    Die Ananke der Gesetze bedrohte la Esmeralda mit Folter und Tod.
    Die Ananke der Natur hatte Quasimodo zum Krüppel verformt, ihm auf ewig die Möglichkeit genommen, ein Mensch unter Menschen zu sein. Was die Ananke des Herzens betraf, so konnte ich selbst ein Lied davon singen. Hatte ich nicht stets darunter gelitten, vaterlos zu sein?
    Und jetzt litt ich unter Colettes Zurückweisung. Wenn Frollo also recht hatte, war er dann der Gute und Villon, mein Vater, der Böse? Waren Weiß und Schwarz vertauscht?
    »Aber der Mensch gehorcht nicht nur Zwängen«, versuchte ich einen Einwand, um aus der Zwickmühle von Frollos Gedankengang zu entkommen. »Er besitzt einen eigenen Willen. Gott gab ihm die Freiheit, Entscheidungen zu treffen.«
    »War das eine gute Tat, war es ein guter Gott?«
    Erschrocken blickte ich in sein ernstes Antlitz. »Domine, wie könnt Ihr, ein Archidiakon, das fragen?«
    »Ich nutze nur die Freiheit des Denkens, soweit sie nicht von den Dogmen unterdrückt ist. Denkt Euren Satz doch weiter, Monsieur Armand. Wenn Gott dem Menschen die Freiheit gab, zwischen Gut und Böse zu wählen, hat er dadurch das Böse nicht erst ermöglicht, es erschaffen? Und hat Gott das Böse dann nicht sogar gewollt, es zumindest billigend in Kauf genommen? Und wenn dem so ist, beten wir dann zu einem guten Gott – oder zu einem bösen?«
    »Ihr verdreht alles!« keuchte ich. »Ihr sprecht dem Menschen die Freiheit ab, und Ihr verwandelt Gott in Satan!«
    »Wer ist schon frei? Und wer

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