Im Schatten von Notre Dame
Falcone löste sich aus dem Nebel und begrüßte mich mit einem unergründlichen Lächeln. Er war übernächtigt, unrasiert, mit dunklen Ringen unter den Augen. »Wie gut, daß man uns nur die Unsterblichkeit der Seele verspricht und nicht auch noch die des Körpers. Erst die Gefahr, daß man es verlieren kann, läßt das Leben so wertvoll werden. Ich hoffe, Ihr seid bereit, endlich die Wahrheit zu sagen, damit Euer kostbares Leben erhalten bleibt.«
Insgeheim stieß ich einen stummen Fluch aus. Hätte der Leutnant nicht ein paar Minuten später kommen können? Oder hatte er schon den ganzen Tag auf der Lauer gelegen, um mich abzufangen? Stand der lächerliche Galgen hier nicht nur zufällig?
Ich stellte Gelassenheit zur Schau und erwiderte: »Wenn ich an Odon und Schwester Victoire denke, scheint mir eher Schweigsamkeit das Leben zu garantieren.«
»Also wollt auch Ihr schweigen?«
»Ich wüsste nicht, was wir zu bereden hätten.«
»Nicht?« knurrte Falcone wie ein gereizter Köter. »Dann begleitet mich bitte!«
»Bin ich festgenommen?«
»Wenn ich Euch verhafte, sag ich’s Euch schon.«
Schweigend durchschritten wir die Gassen der Seine-Insel in Richtung Justizpalast. Falcone kaufte bei einem Obsthändler ein paar Äpfel, die er in ein Tuch wickelte und an seinen Gürtel hängte. Ich schlug den angebotenen Apfel aus, er biss herzhaft in die rotgrüne Frucht.
»Das Verhör von Gaspard Glaires Leuten war so anstrengend, daß ich nicht zum Essen gekommen bin. Leider war mein Fasten sinnlos.
Noch schweigen die vier Halunken so beharrlich, als hätte man ihre Münder zugenäht.«
»Fünf«, sagte ich. »Es waren fünf Gehilfen.«
»Ganz recht, es waren fünf. Jetzt sind’s nur noch vier. Einer hat die Preßfolter nicht überlebt. Der arme Maître Torterue ist ganz geknickt.
So etwas sei ihm noch nie passiert, sagte er. Der Falschmünzer wollte gerade plaudern, aber Torterue hatte ein paar Gewichte zuviel auf die Preßplatte gestellt. Brust und Bauch wurden zerquetscht, und statt uns sein Lied zu singen, konnte der Galgenvogel nur noch Blut und Galle spucken.«
Wir überquerten die Seine auf der Müllerbrücke und wandten uns am anderen Ufer nach links. An den Landungsbrücken entlang gingen wir zu dem Ort, an dem ich gestern fast meinen Arm verloren hätte.
Ich sah Maître Gaspards Haus zum ersten Mal im – wenn auch diffu-sen – Tageslicht. Es war ein verwinkeltes, zweistöckiges Fachwerkge-bäude. Heile Fensterscheiben und das schiefergedeckte Dach zeugten von einem wohlhabenden Eigentümer. Ein großer Torbogen markier-te den Durchlass zum Innenhof, davor fiel das Ufer sanft zum Wasser hin ab, wo ein paar einsame Poller von den Ausläufern des Stroms umspielt wurden. Pappeln und Erlen säumten den Bootsanleger wie zwei Reihen wachsamer Soldaten.
Falcone schleuderte den Strunk des abgenagten Apfels in den Fluss, wo er mit hellem Glucksen versank. »Maître Gaspard hat keinen Nebel gebraucht, um seine dunklen Machenschaften zu verbergen. Lastkäh-ne, die an den Pollern festmachten, waren durch die Bäume vor neugierigen Augen geschützt und bestens geeignet, die schwere Fracht der Münzen aufzunehmen und fortzubringen. Und wenn, wie jetzt, zu-sätzlich noch Nebel den Fluss verhüllt, ist das so gut wie eine Tarnkap-pe. Ein mit schlechtem Geld beladener Kahn verschwindet in der Suppe, und niemand kann feststellen, wohin er fährt. Auch uns wird der Nebel nichts enthüllen, also gehen wir hinein.«
»Wozu?«
»Damit Ihr Euch an die letzte Nacht erinnert, Monsieur Sauveur, und daran, daß Reden besser ist als Schweigen!«
Ich blickte zu den geschlossenen Fenstern im Obergeschoß. »Wohnt hier niemand mehr? Hatte Glaire keine Familie?«
»Ein Weib und zwei Töchter. Aber zur Zeit steht das Haus leer. Ich habe es räumen lassen, damit niemand Spuren verwischt und Beweis-mittel beiseite schafft. Wir haben übrigens nicht nur Falschgeld sicher-gestellt, sondern auch die Druckstöcke für das Kartenspiel, zu dem die Stabzehn des Schnitters gehört. Vielleicht gibt es hier noch mehr Geheimnisse zu entdecken.«
Das Tor zum Innenhof war verschlossen, doch Falcone trug den Schlüssel bei sich. Ich sah zwei vierrädrige Wagen unter einem flachen Vordach stehen. Gaspard hatte sich nicht allein auf den Wasser-weg verlassen. Der Leutnant öffnete die Tür zur Werkstatt, und ich betrat hinter ihm die Stätte meines nächtlichen Schreckens. Die Fenster waren geschlossen, aber nicht länger durch die schweren
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