Im Schatten von Notre Dame
seiner engsten Vertrauten steht, zu ihm vordringen kann. Schon gar nicht ein junger italienischer Gelehrter mit der obskuren Botschaft, in einer Pariser Falschmünzerwerkstatt habe ein Kopist aus Sablé von einem Anschlag auf den König gehört.«
»Und wie soll es dann uns angeblichen Händlern gelingen?«
»Ich weiß es nicht«, gab Villon zu. »Noch nicht. Aber ich habe eine vage Idee.«
»Was ist mit Claude Frollo?« bohrte Leonardo weiter. »Unsere Abwesenheit läßt ihm in Paris freie Hand.«
»Plessis ist derzeit wichtiger, und wir haben vertrauenswürdige Leute in Paris. Auch dürft Ihr Mathias und seine Ägypter nicht vergessen. Ich habe dem Herzog eine Nachricht gesandt, daß er für die nächste Zeit nicht auf mich zählen kann. Er wird Frollo schon auf die Finger sehen.«
Atalante meldete sich zu Wort: »Warum nehmen wir die Gefahr, in das castello einzudringen, überhaupt auf uns? Ist König Ludwig unser Freund?«
»Wenn mein Verdacht, wie der Anschlag erfolgen soll, richtig ist, müssen wir gar nicht ins Schloß eindringen«, antwortete Villon. »Was Ludwig betrifft, so mag er nicht unser Freund sein. Aber wenn die Dragowiten ihn aus dem Weg räumen, tun sie es gewiß nicht ohne Grund.
Der Dauphin Karl ist noch jung, und bis er als neuer Herrscher fest im Sattel sitzt, haben die Dragowiten freies Spiel. Wie sagte doch Claude Frollos Bruder?«
Sein Blick ruhte auf mir, und ich antwortete: »Die Spinne von Plessis wird zu neugierig. Sie scheint zu ahnen, daß nicht alle in ihrer engsten Umgebung ihr Vertrauen verdienen. Der große Umzug ist die beste Gelegenheit, ihr den Kopf abzuschlagen.«
»Da hört Ihr’s«, fuhr Villon fort. »Wenn die Große Spinne stirbt, zerfällt ihr kunstvoll geknüpftes Netz, und das Ungeziefer macht sich breit. Falls Coictier der Großmeister ist, wie wir vermuten, könnte es ihm als einflussreichem Ratgeber des Königs gelingen, die Macht an sich zu reißen, bis die Ananke herbeigeführt ist. Und dann bedarf es keiner Könige mehr, weil es nichts mehr zu regieren gibt!«
Kapitel 2
Colette
Am Abend des dritten Reisetags lagerten wir hinter Chartres. Villon hatte Leonardos Vorschlag, eine Herberge in der Stadt auf-zusuchen, abgelehnt und uns zielstrebig in ein kleines Tal nahe dem Fluss Eure geführt, in dem außer uns keine Menschen zu finden waren, dafür aber ein beeindruckendes Bauwerk aus großen Steinen, von der Art, wie sie unseren heidnischen Vorfahren als Tempel diente. Villon zeigte auf eine felsige Anhöhe jenseits des Steinkreises. »Dort gibt es zahlreiche Höhlen, die uns ein trockenes und sicheres Nachtlager bieten.«
In meiner Hoffnung, Colette auf der Reise näher zu kommen, sah ich mich schwer getäuscht. Mutwillig schien sie sich von mir fernzuhal-ten, war mit Arbeit beschäftigt, wenn ich ausruhte, und legte sich zur Ruhe, wenn ich arbeitete. Begegnete mein Blick dem ihren, schlug sie die Augen nieder, fast so, als schäme sie sich.
Im Schatten des uralten Heiligtums stärkten wir uns. Nach dem Abendmahl, das aus Maisfladen und einem von Leonardo erlegten Hasen bestand, ging Colette zu einem kleinen Weiher, der hinter der Anhöhe lag. Vermutlich sprudelte irgendwo zwischen den Felsen eine Quelle, deren Wasser sich in dem Weiher sammelte, bevor es unterirdisch zum Eure abfloss. Ich tat, als sähe ich mir die Gegend an, und drückte mich ins Gebüsch, als Villon und die Italiener nicht zu mir hersahen.
Der Weiher war von einem Wall aus Schilf und Rohrkolben umgeben, der das Wasser und Colette vor meinen Blicken verbarg. Die hereinbrechende Dämmerung tat ein übriges. Erst als ich mich durch das Heer aus hohen Stängeln und Gräsern gekämpft hatte, glaubte ich, Colette auf einem Felsen am Rande des Gewässers zu sehen. Doch dann erkannte ich, daß dort nur ihre Kleider lagen. Sie selbst stand bis zum Hals im Wasser und wusch sich. Meine Augen weiteten sich, und mein Mund wurde trocken. Auch wenn ich nur ihren Kopf und ihren Hals sah, der Gedanke an ihren nackten Leib, der von dem blaugrünen Wasser umspielt wurde, ließ mein Herz rasen.
Colette schien mich nicht zu bemerken, so sehr war sie mit ihrem Bad beschäftigt. Es mußte ihr ein so ungeheures Vergnügen bereiten, daß sie gar nicht mehr aus dem Wasser kommen wollte. Aber als sie mir ihr Gesicht zuwandte – ich trat sofort einen Schritt zurück ins Schilf –, sah ich ihre verzerrten Züge. Als bereite das Wasser ihr Schmerzen, mehr noch, innere Qualen!
Endlich, als die Nacht schon
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