Im Schatten von Notre Dame
kämpfte. Er benutzte den Ast als Keule, die er einem Maulwurf quer über den Schädel zog. Mit einem Aufbrüllen ging der Getroffene in die Knie, und ein zweiter Schlag brachte ihn endgültig zu Fall.
Die anderen aber warfen sich auf Falcone, begruben ihn unter sich, daß ich ihn kaum noch erkennen konnte. Ein wüstes, sich ständig ver-
änderndes Gliederknäuel im Nebel war alles, was ich sah. Bis die Blinden sich wieder erhoben, aber nicht der Leutnant. Er lag bewegungs-los im Dreck.
Ein lautes Klappern zu meiner Linken ließ meinen Kopf herumruk-ken. Einer der Riesenkäfer war bis zum Rand des Daches vorgedrun-gen und hatte den Halt verloren. Er baumelte mit den Beinen in der Luft, während seine Hände verzweifelt nach Halt suchten. Dabei hatte sich eine Dachschindel gelöst und war in die Tiefe gefallen. Ein anderer blinder Käfer kam dem bedrängten Gefährten zu Hilfe und schaffte es nach einigen Mühen, ihn wieder ganz aufs Dach zu ziehen. Dann krochen sie zurück und verschwanden durch eine für mich unsichtbare Luke. Falcones Täuschungsmanöver war geglückt: Sie glaubten, auch ich sei vom Dach gesprungen.
Ich hatte mich kaum zu rühren gewagt, solange sich die Blinden hier oben aufhielten. Jetzt atmete ich tief durch, doch noch war ich nicht außer Gefahr. Unten auf dem Hof sammelten sich die Maulwürfe, und ganz plötzlich erstarrten sie, als seien sie zu Stein geworden. Instink-tiv hielt ich den Atem an. Andere Männer hätten sich umgesehen, die Maulwürfe aber lauschten. Mein Herz schlug so laut, sie mußten es einfach hören!
Doch dann zogen sie ab, verließen in einer langen Reihe den Hof. Einer von ihnen ging mit einem zum Tasten ausgestreckten Stock voran, der nächste hatte die Hände auf seine Schultern gelegt, der dritte die Hände auf die Schultern des zweiten Mannes und so weiter. Wer sie so sah, mochte sie für harmlose Krüppel halten und unweigerlich die Hand zur Geldkatze ausstrecken, um das beschwerliche Dasein dieser Kreaturen durch eine milde Gabe zu erleichtern. Ich aber wußte, daß sie gefährlicher waren als mancher Sehende, und ich ahnte, daß sie für ihre Untat gut bezahlt wurden. Die Maulwurfsschlange verschwand im Nebel wie ein böser Spuk, der sich auflöst, weil die Geisterstunde vorüber ist.
Ich blieb auf dem Erker sitzen und dachte, daß sich die Mörder vielleicht noch in der Nähe aufhielten. So wartete ich, steif und klamm und mit allmählich einschlafenden Gliedern, bis die Dämmerung ihren dunkler und dunkler werdenden Mantel über Paris warf.
Mindestens eine Stunde mußte vergangen sein, seit die Maulwür-fe den Hof der Druckerei verlassen hatten. Sie waren nicht zurückgekehrt, und ich fühlte mich einigermaßen sicher. Außerdem konnte ich mich hier oben nicht mehr lange halten. Also rutschte ich von dem Erker und zwängte mich durch die Luke, durch die Falcone und ich das Dach erklommen hatten.
Mit einiger Mühe schob ich die Truhe von der Falltür und stieg hinab in die Werkstatt. Im Dämmerlicht war es unheimlich hier, die Druckerpresse mit ihren monströsen Extremitäten aus massivem Holz schien mich förmlich zu belauern, als wolle sie endlich ihre Mahlzeit einfordern – meinen Arm.
Schnell ging ich hinaus auf den Hof und beugte mich über Falcone.
Die dunkle Flüssigkeit, die um ihn herum in den Lehmboden gesik-kert war, machte jede Hoffnung zunichte. Sie hatten ihn regelrecht geschlachtet. Der Schädel war zertrümmert, die Kehle zerfetzt, die Brust von unzähligen tiefen Stichen durchbohrt. Er mußte, und das war der einzige Trost, schnell gestorben sein.
Und er war für mich gestorben! Hätte er nicht durch das Hinab-werfen des Apfelbeutels den Eindruck erweckt, ich sei zuerst hinab-gesprungen, wäre ihm die Flucht vielleicht geglückt. ‘So hatte er mich durch seine Voraussicht gerettet, gleichzeitig aber die Maulwürfe gewarnt.
Hatte er geahnt, daß er in den Tod sprang? Ich wußte es nicht. Aber ich begriff, daß er auf meiner Seite gestanden hatte. Zu spät!
Mein Herz krampfte sich zusammen, als ich seinen Leichnam zu-rückließ und in das Zwielicht aus Dämmer und Nebel lief. Mir war, als hätte ich einen guten Freund verloren.
SECHSTES BUCH
Kapitel 1
›Wenn die Große Spinne stirbt …‹
An dem verregneten Donnerstagmorgen, der auf den schauerlichen Tod des Polizeileutnants Piero Falcone folgte, verließen zwei mit Lederplanen bespannte vierrädrige Handelskarren Paris durch das Tor von Buci. Von jeweils zwei kräftigen
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