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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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nähern.«
    »Wer es dennoch wagt, dem wird’s schlecht bekommen«, ergänzte Villon. »Vierhundert Schützen bewachen das Schloß, die besten, über die Ludwig verfügt, seine Leibgarde.«

    »Die Schotten?«
    »Ja, Leonardo, die schottischen Bogenschützen, die Ludwig treuer ergeben sind als so mancher Franzose. Sie stehen auf den Mauern und Türmen. Des Nachts wachen vierzig Armbruster am Graben vor der äußersten Mauer, um auf alles zu schießen, was sich bewegt. Und wer doch unbefugt ins Schloß gelangt, sollte sich vor den Drehtürmen in acht nehmen.«
    »Was ist das?« fragte Tommaso, den jede Art von Mechanik fesselte.
    »Schaut genau hin, dann seht Ihr es in der Sonne glitzern, Freund Tommaso. An den vier Ecken des Hofes, um den sich die Wohnge-bäude reihen, erheben sich eiserne Wachtürme, die sich in beide Richtungen drehen lassen, damit die Schützen in den Türmen auch jeden Winkel innerhalb der Schloßmauern ständig im Visier haben. Es ist also nicht ratsam, ungebeten in das Schloß einzudringen.«
    Ganz abgesehen davon hielt ich es für ausgeschlossen, daß jemand das vollbringen konnte. Hinter dem Graben, den wir wegen des aufgeschütteten Walls von unserer Warte aus nicht sehen und dessen Tiefe wir daher nicht ermessen konnten, zog sich eine dreifache Verteidi-gungsmauer um das Schloß. Die äußerste Mauer war die niedrigste, die innerste die höchste, so daß ein Feind, der eine Mauer erstürmt hatte, von der nächsten aus bequem unter Beschuss genommen werden konnte. Zu diesem Zweck waren Schwalbennester in die Außen-seiten der Mauern gebaut: kleine, durch Stein und Eisen geschützte Ausgucke für die Schützen, die dort vor feindlichen Geschossen sicher waren.
    Villon, der sich erstaunlich gut auskannte, erklärte, daß sich zwischen den Mauern weitere Gräben befanden, die allesamt aus dem Fluss Cher gespeist wurden. »Und wer das erste Tor durchschritten hat, gelangt nicht geradewegs zum Schloß. Die weiteren Tore sind räumlich versetzt, so daß jeder Eindringling heftigen Beschuss aushalten muß, bis er das nächste erreicht. Wenn ihr euch die Wälle anseht, werdet ihr das Aufblinken der Eisenpalisaden bemerken, die auf ihnen errichtet sind. Jede einzelne Pfahlspitze teilt sich in viele scharfe Enden. Wer da rüberklettern will, schlitzt sich ruckzuck den Wanst auf.«

    »Das ist kein Schloß«, entfuhr es mir, »das ist ein riesiger Kerker.«
    Villon lächelte. »Das haben schon andere festgestellt, und so mancher mit innerer Befriedigung. Ludwig hat viele Menschen in seinen Kerkern und Käfigen eingesperrt. Man sagt, es sei nur gerecht, daß ihn im Alter die Angst packt und er sich selbst einsperrt.«
    »Aber wovor hat er Angst?« fragte Leonardo. »Gevatter Tod läßt sich von Mauern, Gräben und Bogenschützen nicht abhalten.«
    »Gegen diesen Feind hält Ludwig sich Ärzte und heilige Männer oder solche, die sich dafür ausgeben. Im September letzten Jahres hat er sich hier verschanzt, so als habe ihn etwas zu Tode erschreckt.«
    »Zu jenem Zeitpunkt habt Ihr uns nach Paris gerufen«, sagte Leonardo, »weil die Unternehmungen der Dragowiten bedrohlich wurden.«
    »Ganz recht«, bestätigte Villon. »Und Ludwig ist, so kann man sagen, aus Paris geflohen.«
    Colette sah ihn fragend an. »Vor den Dragowiten?«
    »Wir können es nur vermuten. Immerhin bedrohen sie ihn jetzt mit dem Tod.«
    Leonardo drehte sich im Sattel und spähte in den Wald. »Auch eine Spinne verläßt einmal ihr Nest. Wenn Ludwig hier durch muß, bieten die Wälder einer ganzen Armee von Attentätern Schutz. Da können ihm auch seine Schützen nicht helfen.«
    »Hier verstecken sich gewiß keine Attentäter«, sagte Villon mit Bestimmtheit.
    Leonardo hob die Brauen. »Wie könnt Ihr da so sicher sein?«
    Villon nahm ein totes Huhn das wir gestern auf einem Bauernhof erstanden hatten, aus dem Wagen und trat in den Wald. Mir fiel auf, daß er vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte wie ein Kranker oder wie jemand, der sich fürchtet. Er sah sich nach allen Seiten um, und dann schleuderte er mit einem Ruck das Huhn von sich fort. Als es den Waldboden berührte, fiel ein Netz aus einer Baumkrone über das Tier. Ein lautes Klacken ertönte, dann ein Sirren, und aus einem Ho-lundergebüsch schoß ein Pfeil hervor, fuhr durch das Huhn und nagelte es am Boden fest.
    »Der ganze Wald steckt voller Schlingen, Fallgruben, Fußangeln und tödlicher Mechanismen«, erklärte Villon. »Die Leute aus dem Dorf nennen ihn den

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