Im Schatten von Notre Dame
Maultieren gezogen, hatten die Karren Decken und Tuchballen geladen, mit denen die vermeintlichen Händler auf dem Maimarkt von Plessis-les-Tours gute Geschäfte zu machen gedachten. So sagten sie es den Wachen am Stadttor, und so belegten es ihre gefälschten Papiere. In Wahrheit waren die fünf Männer und die junge Frau von der kühnen Idee beseelt, den König von Frankreich zu retten.
Leonardo saß im Sattel eines großen Falben und bildete die Vorhut.
Auf dem Bock des vorderen Wagens hatte sich Colette niedergelassen, und Tommaso führte das Gespann. Atalante hockte auf dem zweiten Wagen, während ich mit Villon neben den Maultieren hertrottete.
Der aufgeweichte Boden sog schmatzend an unseren Stiefeln. Als sei das noch nicht genug, bewarfen uns die Räder des vorderen Wagens unablässig mit Dreck. Zum Schutz gegen Schmutz und Regen hatten wir Tücher als Kapuzen über die Köpfe gezogen. Villon und ich waren schweigsam wie zwei einander fremde Pilger, die nichts gemeinsam haben als den Weg zu einer heiligen Stätte. Irgendwann, als die Türme von Paris nur noch ferne, schemenhafte Umrisse waren, fragte er: »Hat Euch etwas verstimmt, Armand? Oder sitzen die Zweifel so tief?«
»Zweifel?« erwiderte ich verwirrt. »Woran sollte ich zweifeln?«
»An mir, Armand, an meinem Wort. Hat Dom Claude Frollo in Euch den Zweifel gesät, ob Ihr auf der richtigen Seite steht?«
»Natürlich habe ich darüber nachgedacht, die ganze verfluchte Nacht.
Nach der Begegnung mit den Maulwürfen und dem Mord an Falcone habe ich kein Auge zugetan.«
»Und?« Villons Gesicht war mir zugewandt, und ich glaubte, unter der Kapuze seinen fragenden Blick zu erkennen. »Habt Ihr eine Antwort gefunden?«
»Ich begleite Euch in die Touraine, Magister Villon. Ist Euch das nicht Antwort genug?«
»Ich freue mich, Euch an meiner Seite zu haben, mein Sohn. Und ich glaube, daß Ihr auf Euren Verstand und auf Euer Herz hört. Aber ich spüre, daß es noch einen Grund gibt.« Villon sah nach vorn, zum ersten Wagen. »Sitzt er dort auf dem Bock?«
Mit mißmutig zusammengekniffenen Augen folgte ich seinem Blick und sagte in absichtlich tadelndem Ton: »Ich halte es nach wie vor nicht für klug, daß Ihr Colette mitgenommen habt. Sie ist gerade erst von ihrer Verwundung genesen, und schon setzt Ihr sie neuer Gefahr aus.«
»Sie hat darauf bestanden. Wir konnten das Verlies, in dem ihr Vater nun gefangen gehalten wird, nicht ausfindig machen, und jetzt hofft die Arme, in Plessis mehr zu erfahren. Hätte ich es ihr abgeschlagen, hätten sich noch mehr dunkle Wolken auf ihr Gemüt gelegt.«
»Außerdem ist ein hübsches Mädchen auf dem Bock eine Ablenkung für allzu neugierige Wachen, wie?«
Villon lachte das rasselnde Lachen eines kranken Mannes. »Ihr seid ebenso gut darin, mich zu durchschauen, wie darin, von Fragen abzulenken.«
»Also gut, wenn Ihr’s unbedingt hören wollt«, seufzte ich. »Colette ist ein Grund für mich, Euch zu begleiten, ein wichtiger Grund. Aber nicht der einzige. Das seltsame Schachspiel, das Ihr mit Claude Frollo und dem geheimnisvollen Großmeister austragt, verlagert sich von Paris nach Plessis-les-Tours, und ich will dabeisein.«
»Warum?«
»Was für eine Frage. Ihr selbst habt mich in das Spiel hineingezogen, nur als Bauer, gewiß, aber die Rolle habe ich satt!«
»Das spricht für Euch, Armand, und ich bin stolz auf Euch.«
»Gebt Euch keinen falschen Hoffnungen hin, die frommen Brüder in Sablé haben keinen Helden aufgezogen. Es gibt nämlich noch einen gewichtigen Grund, weshalb ich lieber mit Euch gehe, als in Paris zu bleiben: Ich will nicht enden wie Odon und Schwester Victoire, nicht abgeschlachtet werden wie Falcone. Kipper und Wipper, der Schnitter von Notre-Dame und der bucklige Quasimodo, Maulwürfe und Muschelbrüder, das ist wirklich allerhand für einen friedliebenden Kopisten!«
»Die Muschelbrüder stehen auf unserer Seite.«
»Das wissen wir beide, aber wissen sie es auch?«
»Verlasst Euch drauf! Die Coquillards mögen längst nicht mehr soviel Macht besitzen wie vor zwanzig, dreißig Jahren, aber ich bin immer noch ihr König.«
»Die Muschelbrüder folgen Euch weiterhin, obwohl Ihr nicht mehr nach Beute und Reichtum strebt, sondern nach der Erlösung der Seelen? Ich hätte nicht gedacht, daß Gauner ihrer Seele sonderlichen Wert beimessen.«
»Oh, da täuscht Ihr Euch, Armand. Die meisten Menschen werden erst zu Gaunern, weil sie für ihre Seele keine Hoffnung mehr
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