Im Schatten von Notre Dame
Todeswald.«
»Was mir nicht unzutreffend scheint«, bemerkte Atalante mit einem Blick auf das durchbohrte Huhn, dessen einziges Glück es gewesen war, nicht zweimal sterben zu können.
Leonardo sah nachdenklich zu den düsteren Mauern hinüber. »Niemand kann sich ganz und gar vor Attentätern schützen, nicht einmal die Große Spinne. In jeder Mauer gibt es Lücken – und wenn keine Lücken, dann brüchige Stellen. Das gilt auch für Ludwigs vielfachen Verteidigungsring. Er ist dann nutzlos, wenn der Feind die Wälle weder im Sturm erobern noch heimlich überwinden muß.«
»Wie soll er dann hineingelangen?« wollte Colette wissen.
»Er muß nicht hineingelangen, wenn er schon drin ist.«
»Seine eigenen Wachen?« fragte Colette weiter. Sie schien nicht zu bemerken, daß ich sie sehnsüchtig ansah.
»Nicht die Schotten, die gewiß nicht«, sagte Villon so entschieden, als sei es das elfte Gebot. »Sie erachten es als eine Ehre, für Ludwig zu kämpfen und zu sterben, eine gutbezahlte dazu. Und keiner von ihnen kann persönlich etwas gegen den König haben. Von keinem schmachtet Bruder oder Vater in Ludwigs Kerkern. Er weiß sehr wohl, warum er seine Garde aus einem fernen Land holt. Auch englische Ränke gegen Ludwig lassen die Schotten unbeeindruckt, sind doch die Goddams ihre Erbfeinde. Die Engländer haben den Schotten das Blut aus-gesaugt, haben aus angesehenen Männern von Adel Bettler gemacht.
Indem Ludwig die Highlander gut bezahlt, gibt er ihnen Ehre und Wohlstand zurück.«
»Bleiben die Beamten am Hof«, warf Leonardo ein.
»Nur die wichtigsten Bediensteten verbringen die Nacht im Schloß.
Die anderen wohnen im Dorf und werden jeden Morgen, beim Öffnen der Tore, nach Waffen durchsucht.«
»Adlige?« versuchte Leonardo es noch einmal.
Villon schüttelte den Kopf. »Die Menschen, die Ludwig über Nacht bei sich duldet, sind keine, die ihm Anrechte auf Ländereien neiden.
Des Nachts verbleibt in seiner Nähe nur der Gossenadel, den er selbst groß gemacht hat und der seine Vorrechte nur genießt, solange Ludwig lebt.«
»Der Gossenadel?« wiederholte ich verständnislos.
»So nennen die wahrhaft Blaublütigen verächtlich seine Günstlin-ge, die Ratgeber, denen er als einzigen Menschen vertraut, allen voran Maître Jacques Coictier. Aber noch andere gehören dazu. Da ist zum Beispiel Maître Olivier le Daim, der Barbier und Erste Kammerdiener des Königs, den sie auch le Diable nennen.«
»Den Teufel?« Ich sah Villon ungläubig an. »Der Teufel ist ein Barbier?«
Villon hustete, aber es sollte wohl ein Lachen sein. »Ja, so sagen manche. Vom Barbier stieg er auf zu einem der wichtigsten Ratgeber und zum Gesandten des Königs in heiklen Missionen. Es heißt, Maître Olivier geht dabei mit der Durchtriebenheit des Teufels zu Werke. Le Diable soll sogar sein eigentlicher Name sein. Es spricht für Ludwigs Gewitztheit, daß er seinen Barbier zum Schloßherrn, Forstmeister und Brückenhauptmann ernannt hat. Wer so viele Vorrechte erlangt, wird kaum geneigt sein, das Messer bei der Rasur ein wenig zu tief anzu-setzen.«
»Wer gehört noch zu des Königs Ratgebern?« erkundigte sich Leonardo. »Sein Schuster und sein Kesselflicker?«
»Ganz so schlimm ist es nicht. Tristan l’Hermite, der königliche Generalprofos, wäre noch zu nennen. Er ist nicht nur der Vollstrecker des Königs, sondern auch sein Auge und sein Ohr. Man nennt Maître Tristan ungemein scharfsinnig, er soll einem Mann bis auf die Seele blik-ken können. Jedenfalls soll er bislang noch alle Feinde des Königs gehenkt haben, und im Zweifelsfall lieber ein paar zuviel als zuwenig.«
»Ein Quacksalber, ein Barbier und ein Henker also.« Leonardo stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Da fehlt nur noch ein Vaterlands-verräter.«
Villon sah ihn erstaunt an. »Kennt Ihr Euch bei Hof etwa aus, Bruder Leonardo?«
»Wieso?«
»Weil Ihr Philippe de Commynes nicht besser hättet beschreiben können. Er war ein Gefolgsmann Karls des Kühnen, bis er vor elf Jahren die Seiten wechselte und in Ludwigs Dienste trat. Unserem guten König allerdings soll er treu ergeben sein. Er ist Seneschall von Poitou und Leiter des königlichen Nachrichtendienstes. Was Tristan entgehen mag, den Spionen de Commynes’ entgeht es kaum.«
»Na wunderbar«, seufzte Leonardo. »Wenn der König von solch treff-lichen Beratern umgeben ist, weshalb unternehmen wir dann die weite Reise in die Touraine?«
»Vergesst nicht, daß wir einen dieser Berater
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