Im Schatten von Notre Dame
Platzes nahe der Tribüne aufgebaut hatte. Eilig entzündete der Feuerwerker die Lunten, die aus den unteren Öffnungen eiserner Rohre ragten. Kunstvoll gefertigte Vögel flatterten aus den himmelwärts gerichteten Rohren und stiegen jaulend auf. Ihr Gefieder ließ sie über den Dächern schweben, bis sie zerplatzten und ihren Funkenregen versprühten, daß es mir zeitweilig hell wie am Tag erschien. Licht und Flammen überwanden die Nacht und die Wesen der Finsternis.
Nur weil es so hell war, erspähte ich die als Dämonen Maskierten, fünf an der Zahl, die sich hinter einem Mauervorsprung erhoben und metallene Rohre, ähnlich denen des Feuerwerkers, auf die Tribüne richteten. Was sie in Händen hielten, sah aus wie eine Mischung aus einem Feuerwerksrohr und einer Arkebuse. Die Lunten brannten bereits, und endlich – zu spät? – wußte ich, auf welch perfide Weise Kö-
nig Ludwig sterben sollte. Die Funkenvögel des Feuerwerkers lenkten nicht nur die Menge ab, sondern auch die treuen Schotten. Vielleicht würde man alles für einen Unfall halten, für ein Missgeschick des Feuerwerkers.
Als sei ich selbst ein aus dem Rohr schnellender Vogel, stürmte ich zur Tribüne und schrie dem König aus Leibeskräften zu, er möge sich in Deckung bringen.
Ob er mich hörte? Möglicherweise schreckte ihn nur die Bewegung seiner Wachen auf, die auf mich aufmerksam wurden und mir ihre Waffen entgegenreckten. Jedenfalls tat Ludwig einen Sprung zur Seite, und das erste Raketengeschoß verfehlte ihn, schlug in den Sessel auf der Tribüne ein. Der Donner der Explosion verschluckte jedes andere Geräusch. Der Sessel wurde vollständig zerfetzt, und der Druck der Entladung riß Ludwig von den Beinen. Wo er gerade noch gestanden hatte, schlug das zweite Geschoß ein, und wieder krachte es ohrenbetäubend. In der Tribüne klaffte ein gehöriges Loch.
Das weggesprengte Holz flog in Stücken jeder Größenordnung durch die Luft. Splitter bohrten sich in meine Haut, und anderen erging es ebenso, wie ich an dem allgemeinen Geschrei erkannte. Den König sah ich nicht mehr. War er durch das Loch in der Tribüne gefallen? Oder wurde er von der dichten Rauchwolke verborgen, die sich rasch ausbreitete und schlimmer stank als der Weihrauch?
Als das dritte Geschoß explodierte, drängte die Menge in wilder Panik von der Tribüne weg und riß mich mit sich. Den Menschen, die nicht wußten, was vor sich ging, mußte es wie Zauberei vorkommen.
Die Hölle spie ihren tödlichen Atem aus, um in dieser Walpurgisnacht den Sieg über die guten Mächte zu erringen.
Auf der Tribüne erhob sich die verwirrte Maienkönigin aus ihrem Bettgestell und sah sich erschrocken um. Das vierte Geschoß schlug mitten in ihren umfänglichen Leib und zerfetzte ihn. Hätten die Menschen Zeit und Muße zum Einsammeln von Reliquien gehabt, wäre gewiß für jeden etwas Maienglück abgefallen, und wäre es auch nur eine Fingerkuppe gewesen oder ein Stück vom Gedärm.
Auch das fünfte Geschoß fand ein Opfer: den Bürgermeister, der sich zu spät entschlossen hatte, seiner Tochter zu Hilfe zu eilen. Zwar schlug die Kugel einen Klafter unter ihm ein, aber ich sah ihn taumeln und fallen. Dann schob sich eine Hausecke zwischen mich und die Tribüne.
Um genau zu sein: Ich wurde von der fliehenden Masse aus Menschen, Dämonen und Hexen um die Ecke eines großen Fachwerkhau-ses gedrängt und wäre weiter mitgerissen worden, hätte ich nicht beide Arme um einen Stützbalken des Vordaches geschlungen und mich nach oben gezogen. Von hier aus sah ich den Mauervorsprung, der die Attentäter verborgen hatte. Sie waren verschwunden, wahrscheinlich durch die enge Gasse geflohen, die sich gleich hinter ihrem Versteck auftat.
Eine Frau lief, den Rock gerafft, in die Gasse hinein, und mein Herz schlug schneller, als ich Colette erkannte. Von ihrem erhöhten Aussichtspunkt auf einem der Wagen hatte sie die Attentäter entdeckt und nahm jetzt die Verfolgung auf. Aber allein?
Unter wilden Flüchen lief ich über das Dach und sprang in einen Innenhof. Über eine Regentonne kletterte ich auf ein weiteres Dach, sprang abermals hinunter und landete auf allen vieren in der bewus-sten Gasse.
Ich rappelte mich auf und sah mich um. Die Gasse war leer, ich kam zu spät. Getrieben von der Sorge um Colette, rannte ich in die Richtung, die sie und vermutlich auch die Attentäter genommen hatten.
Mein Herz klopfte, als wollte es meine Brust sprengen, und gemahnte mich daran, daß ich Colette
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