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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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Tribüne Platz, zu deren Seiten Fackelträger aufmarschierten. Im flackernden Licht war der König deutlich zu sehen, für seine jubelnden Bewunderer ebenso wie für die geheimnisvollen Attentäter, von denen noch immer nichts zu entdek-ken war.
    »Wir sollten uns aufteilen«, schlug Villon vor. »Colette und ich klettern auf die Wagen, um von hier aus den Marktplatz zu überblicken.
    Ihr anderen geht möglichst nahe an die Tribüne, um Ludwig abzu-schirmen.«
    Ich schob mich zusammen mit den Italienern durch das Gedränge.
    Daß Ludwig mich erkannte, war kaum zu befürchten. Er befand sich im hellen Licht, ich aber war nur eins von tausend Gesichtern. Zudem ging ich davon aus, daß er seine Begegnung mit dem kleinen Kopisten Armand Sauveur längst vergessen hatte.
    Wir erreichten die Tribüne, als der Bürgermeister von Plessis-les-Tours, ein sehr kleiner, dafür aber um so dickerer Mann, vor den Kö-
    nig trat und ihn begrüßte. Der Bürgermeister stellte seinem obersten Lehnsherrn die mit einem Blumenkranz und Blumengirlanden geschmückte Maienkönigin vor, wohl nicht zufällig seine eigene Tochter, was ihrer Schönheit gewisse Grenzen setzte. Trotz ihrer Jugend war auch sie von beträchtlicher Leibesfülle, und ich verstand nur zu gut, daß sie die für das Amt der Maienkönigin erforderliche Eigenschaft der Jungfräulichkeit mitbrachte. Widerwillig trat der Bürgermeister in den Hintergrund, denn das Folgende war Sache des Königs und der Maienkönigin.
    »Mein Vater, mein Vater«, rief sie mit schriller Stimme den König an, daß dieser wohl Ohrensausen bekommen mußte, »horcht nur nach draußen, da heult es so laut, da bellt es und stampft, da lärmt es und brüllt hoch über den Kronen der Bäume gräulich und wild!«

    Wie eine schlechte Schauspielerin, die sie ja war, blickte sie mit weit aufgerissenen Augen zu dem geschmückten Maibaum hinauf, der auf dem Marktplatz errichtet war, als sähe sie über ihm das Wilde Heer durch den Himmel ziehen. Die Musikanten spielten eine schauerliche Katzenmusik. Die Maskierten tanzten wild durcheinander und grölten und kreischten, um den Worten der Maienkönigin gehörigen Nachdruck zu verleihen.
    Der König stand auf und breitete die Arme aus. Schlagartig erstarrten die Hexen und Dämonen, verstummten selbst die Musikanten. Ein Windzug ließ das rote Königsgewand flattern wie das Gefieder eines riesigen Vogels, und Ludwig selbst erschien mir wie eins der zu ban-nenden Schattenwesen.
    Er beugte sich zu der buntgeschmückten Maid und sprach: »Mein Kind, dies ist eine böse Nacht, mein Kind, es ist die Wilde Jagd. Ein Vaterunser, drei Kreuze ans Tor, dem Herrn sei Dank, nun sind wir sicher davor. Nicht länger kann der Spuk zu uns herein, nun leg dich zu Bett, mein Kind, schlaf ein!«
    Kaum hatte er ausgesprochen, hob lautes Glockengeläut an. Die Gesichter wandten sich dem Kirchturm zu, auf dem ein hölzernes Kruzifix in den blauen Nachthimmel ragte. Angeführt vom Pfarrer, der laut das Vaterunser betete, schritt eine kleine Prozession aus der Kirche.
    Mesner in feierlichen Gewändern schwenkten Weihrauch aus, andere trugen ein Kruzifix, ähnlich dem auf dem Kirchturm. Vor jedem Haus hielt der Umzug an, und der Pfarrer malte mit weiß leuchtender Kreide drei Kreuze an die Eingangstür. Unter Wehklagen wanden sich die Maskierten wie magenkrankes Gewürm, wobei ich nicht festzustellen vermochte, ob sie vor dem Gebet, dem strengen Blick des hölzernen Gekreuzigten oder dem beißenden Gestank des Weihrauchs, der auch meine Augen tränen machte, zurückschreckten.
    Derweil faßte Ludwig sein rundliches ›Kind‹ an der Hand und führte es zu einem auf der Tribüne aufgestel ten Bett, in das die Maienkönigin sich legte. Das wackelige Ding hielt ihrem Gewicht stand, und das war viel eicht das größte Wunder dieser Walpurgisnacht. Mit der Maid kamen auch die Dämonen und Hexen zur Ruhe, ihr Treiben war gebannt.

    Der König sagte laut in die Runde: »Vorbei ist der Zauber, vorüber der Spuk, der Herr wird’s vergelten mit Segen genug!«
    Begleitet von einem ohrenbetäubenden Jaulen, zerplatzten die Sterne am Himmel. Ich fuhr zusammen, mein Atem stockte. Funken sprü-
    hend, schwebten die Überreste der geborstenen Gestirne zu Boden.
    Sämtliche Kometen, die Pierre Gringoire in seinem Buch verzeichnet hatte, schienen auf einmal auf die Erde zu stürzen, zum Beweis ihrer göttlichen, verheerenden Macht.
    Dann entsann ich mich des Feuerwerks, das man an einer Seite des

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