Im Schatten von Notre Dame
im Hof der Wunder aufgetaucht«, erläuterte Mathias.
»Ich habe Clopin und Gringoire gebeten, ihn im Auge zu behalten.«
»Da der Herzog gerade von seinem Schwiegersohn spricht«, sagte ich und zog mir damit einen bösen Blick des Zigeuners zu, »ich hatte nicht den Eindruck, daß Gringoire seine Angetraute sonderlich vermisst.«
Mathias brummte: »Er mag ein Poet sein und studiert haben, aber sein Geist ist der eines Kindes. Hat er einmal begriffen, daß ein Spielzeug für ihn unerreichbar ist, streicht er es aus seinem Herzen und wendet sich anderen Dingen zu.«
»Ihr nennt Eure Tochter ein Spielzeug?« fragte ich verwundert.
»Für mich ist sie es nicht, aber für Gringoire. Vielleicht hat sein Beruf ihn verdorben. Mein Volk kennt keine Schreiber. Wer sich zuviel damit beschäftigt, kühne Gedanken zu Papier zu bringen, verliert sich darin. Sein Geist spielt mit wirren Gespinsten, aber seine Augen und Ohren verschließen sich dem Leben und den Menschen.«
Der Tag war dem Abend, der Abend der Nacht gewichen, als ich nach Notre-Dame zurückkehrte. Der Himmel war wolkenlos, Mond und Sterne leuchteten über Dächern und Türmen. Das dunkelblaue Firmament umhüllte die Kathedrale wie ein samtiges Tuch, in dem selbst der schwere Koloss aus Stein, der das Wissen von Jahrhunderten barg, eine erholsame Nachtruhe fand. Aber je länger ich auf dem Domplatz stand und das Gemäuer ansah, desto trügerischer erschien mir dieses Bild. Erst bei Nacht, wenn die Domherren in ihren Klosterzellen ruhten und das Volk aus der Kathedrale verbannt war, konnte Unsere Liebe Frau ihre Geheimnisse denen preisgeben, die dafür bereit waren.
Vielleicht bedurfte es der Dunkelheit, um zu enthüllen, was am lichten Tag verborgen blieb.
Ich verspürte eine unerklärliche Unruhe, den Drang, in die Nacht-welt Notre-Dames einzutauchen. Stein und Mörtel schienen zum Leben erwacht, bereit, mir ihre Geheimnisse zu offenbaren. Die drei gro-
ßen Portale zum Domplatz hinaus waren längst verschlossen und verriegelt. Der Pförtner an der Rue du Cloître kannte mich und ließ mich ein. Ich stieg nicht die Treppe zu meiner Zelle hinauf. Das große Kirchenschiff, jetzt ein Labyrinth aus flackerndem Kerzenlicht und un-zähligen tanzenden Schatten, zog mich unwiderstehlich an.
Wie damals, als ich unter Odons Führung die Welt aus Stein zum ersten Mal betreten hatte, erfasste mich angesichts der unzähligen Skulpturen eine Mischung aus Andacht und Erschrecken. Ob Gesichter von Heiligen oder Fratzen von Teufeln, die Züge waren so detailliert, so eindringlich gestaltet, daß es sich nicht bloß um toten Stein handeln konnte. Das Kerzenlicht brachte zusätzliches Leben auf die Gesichter.
Sie schienen sich nach mir umzudrehen, mich anzustarren und mich zu fragen, wie ich es wagen konnte, ihnen ihr Geheimnis entreißen zu wollen. Ich schloß die Augen vor dem steinernen Gericht und wandte mich ab, um die zahllosen bohrenden Blicke nicht länger ertragen zu müssen. Als ich die Augen wieder öffnete, erspähte ich den Engel. Er war weiß und nur einen Herzschlag lang zu sehen, bevor er sich in den Schatten der Vierung auflöste.
Es war bestimmt kein bloßer Lichtreflex. Ich war mir sicher, etwas gesehen zu haben, auch wenn es kein menschliches Wesen zu sein schien. Ganz in Weiß gekleidet, bewegte sich das Geschöpf, ohne daß Füße zu erkennen waren. Es schien zu schweben. Was aber vielleicht das Seltsamste war: Es hatte keinen Kopf. Einen Engel nannte ich es wohl, weil es kein Mensch sein konnte. Und weil der Gedanke, einem Engel begegnet zu sein, beruhigender war als der an einen Dämon.
Ich schritt durchs Mittelschiff auf die Vierung zu und griff gar nicht erst nach dem verborgenen Dolch. Was konnte meine Klinge schon gegen die Mächte des Jenseits ausrichten? Außerdem redete ich mir ein, daß mir der weiße Engel nichts Böses wollte.
Als ich die Vierung erreichte, blieb ich stehen und sah mich um. Steine und Skulpturen, Kerzen, vom Mondlicht gestreichelte Fenster und Inseln undurchdringlicher Schwärze unter den Wölbungen der Dek-ke, aber keine Spur von dem weißen Engel. Mir gegenüber bewachten der heilige Sebastian und die Jungfrau Maria den Eingang zum Chor.
Doch weder sandte mir der Patron der Schützen einen Pfeil der Erleuchtung, noch erbarmte sich die Muttergottes meines ratlosen Geistes.
Ich drehte den Kopf nach links, wo das Tor zum Kloster lag, dann nach rechts, wo es zum Palast des Bischofs ging. Waren die Pforten womöglich gar
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