Im Schatten von Notre Dame
»Asyl!« und »Freistatt!« und wurde von tausend Stimmen gefeiert, als habe er soeben das Evangelium verkündet. Sah man von seiner kurzen Amtszeit als Narrenpapst ab, hatte Quasimodo wohl niemals zuvor soviel Zustimmung und Jubel empfangen. Er genoß es, und ich hielt mich im Hintergrund. Einmal traf mein Blick den der Esmeralda, und ich glaubte, in ihren Augen Erleichterung zu lesen – und noch etwas: Triumph!
Darüber wunderte ich mich noch, als Quasimodo mit ihr im Südturm verschwunden war. Die Menge feierte ihn, und er zeigte sich erneut, hoch oben auf dem Dach des Turms. Dort stand er, noch immer die Frau auf seinen Armen, ein Ausgestoßener der Natur und eine Ausgestoßene der kirchlichen Dogmen wie der menschlichen Gesetze.
Das Monstrum und die blühende Schönheit, ich hätte mir keinen grö-
ßeren Gegensatz denken können.
Einmal in seinem traurigen, einsamen Leben war es Quasimodo vergönnt, zu den anderen zu gehören. Und la Esmeralda, um deren Hals noch immer der Hanf lag, konnte wohl ihr Glück kaum fassen.
Mir aber schwante, daß ich nicht den glücklichen Ausgang eines frohen Schauspiels erlebte, sondern den Auftakt zu einer grausamen Tragödie, deren Bühne die alte Kathedrale war. Der Bucklige und die Zigeunerin erschienen mir als Verkörperung jedweder Ananke.
Denn das Schicksal liebt die Ausgestoßenen nicht.
Weil die Menschen sie nicht lieben.
Kapitel 2
Der weiße Engel
Die Errettung der schönen Zigeunerin durch den häßlichen Glöckner versorgte ganz Paris mit Gesprächsstoff. In den Kaschem-men der Cité-Insel, in den Handelskontoren der Neustadt und in den Kollegien der Sorbonne erörterte man das Ereignis. Die Bänkelsänger priesen das tapfere Herz des Glöckners und die Unschuld der Tänzerin, ohne zu ahnen, wie nahe sie mit ihrer Rede von der Unschuld der Wahrheit kamen. Und ebenso wenig ahnten sie, daß la Esmeralda in Notre-Dame nicht nur mit ihrem Retter eingesperrt war, sondern auch mit ihrem Verderber Claude Frollo.
Ahnte oder kannte Quasimodo die Wahrheit? Er bewachte die Tänzerin wie ein besorgter Vater sein krankes Kind. Nicht nur vor einem plötzlichen Einfall der Scharwache in die Kathedrale, wie mir schien.
Auch innerhalb Notre-Dames durfte niemand es wagen, in die Nähe der Zigeunerin zu kommen. Sie hauste in der Freistattzelle der Kathedrale, unter den Strebebalken im Dach der Seitenschiffe. Von dort blickte man zum Kloster, und ich fragte mich, ob Dom Frollo und la Esmeralda sich gegenseitig belauerten.
Am fünften Tag nach Quasimodos Heldenstück sah ich seinen Ziehvater nach der Vesper den verwinkelten Weg zur Asylzel e nehmen und folgte ihm vorsichtig, mich im Schatten von Pfeilern und Mauervorsprüngen haltend. Mit klopfendem Herzen hörte ich laute Stimmen aus der Freistattzel e, die Dom Frol os und die der Zigeunerin. Offenbar be-schimpften sie einander, und ich war nahe daran einzugreifen. Womöglich wol te Frol o vol enden, was dem Henker versagt geblieben war.
Gerade als ich mein Versteck verlassen und la Esmeralda zu Hilfe eilen wollte, hielten laute, polternde Schritte mich zurück. Quasimodo sprang herbei, doch zum Glück bemerkte er mich nicht. Er stürmte in das Quartier der Esmeralda und schleuderte seinen Ziehvater mit solcher Wucht hinaus, daß Frollo auf dem Gang zu Boden fiel. Schweigend, mit todernstem Gesicht, erhob sich der Archidiakon und verließ den Ort wutbebend. Da ich am Dreikönigstag mit angesehen hatte, wie bedingungslos Quasimodo sich für seinen Herrn einsetzte, erschien mir dieser Vorfall höchst bemerkenswert. Hatte Dom Frollo seine Macht über den Glöckner verloren?
Mehr noch, Quasimodo schien im Bann der schönen Zigeunerin zu stehen. Vielleicht auch im Bann ihrer Hexenkräfte. Wie anders war es zu erklären, daß er so plötzlich aufgetaucht war, als hätte er, der Taube, einen Hilferuf vernommen? – Später erfuhr ich, daß er seinem Schützling für Notfälle eine Pfeife überlassen hatte, deren Klang nur an seine beinahe toten Ohren drang.
Er mochte la Esmeralda aus Dankbarkeit gerettet haben, weil sie ihm damals Wasser gegeben hatte, obwohl er sie auf Frollos Befehl hatte entführen wollen. Womit sich ihre Samaritertat mehr als ausgezahlt hatte. Doch spätestens jetzt, von ihrer Nähe verzaubert, war der Glöckner vom Leuchten ihres Liebreizes gefangen wie die Motte vom Licht.
Ich selbst verspürte diese magische Anziehungskraft und dachte nicht darüber nach, ob es sich vielleicht bloß um ein Blendlicht
Weitere Kostenlose Bücher