Im Schatten von Notre Dame
nicht verriegelt? Ich ertappte mich bei dem Gedanken, das zu überprüfen. Wie töricht, wenn ich wirklich ein überirdisches Wesen erblickt hatte! Für einen Engel stellte eine Pforte aus Holz und Eisen kein Hindernis dar. Er konnte sich auflösen wie das Kerzenlicht in den übermächtigen Schatten.
Doch der weiße Engel hatte sich nicht aufgelöst. Ich sah sein Schimmern zur Linken im Chorumgang. Auf Zehenspitzen schlich ich zum Seitenschiff des Chors, vor dem Sankt Martin Wache hielt. Als ich vorsichtig an der Chorschranke vorbeilugte, erblickte ich das seltsame Wesen aus Weiß. Dort, wo ein vernünftiger Mensch einen Kopf erwartet hätte, klaffte düsteres Nichts, als hätte der Engel sein Haupt unter dem Schwert des Scharfrichters verloren.
Das Wesen bewegte sich, löste sich aus den Schatten und trat mir entgegen. Ich hielt den Atem an und zog den Kopf so weit zurück, daß ich gerade noch an der Schranke vorbeispähen konnte. Fast bereute ich meinen Entschluß, den weißen Engel zu verfolgen, da erkannte ich die Wahrheit: Das Wesen hatte sehr wohl einen Kopf, nur lag der unter einem schwarzen Schleier verborgen, was ihn im Schatten so gut wie unsichtbar machte. Das weiße Gewand unter dem Schleier reichte bis zum Boden, weshalb ich statt Schritten ein Schweben gesehen hatte. Ich kannte die Tracht aus dem Hôtel-Dieu, es war die Kleidung der Novizinnen. Unendlich erleichtert, einen Menschen vor mir zu haben, fragte ich mich zugleich, was eine angehende Augustinerin zur Nachtzeit in der Kathedrale suchte.
»Wer seid Ihr?« fragte eine leise Stimme, die fest klingen sollte und doch kaum merklich zitterte. »Warum versteckt Ihr Euch vor mir?«
Ich trat in den Chorumgang. »Ich habe mich versteckt, weil ich nicht wußte, wer hier nächtens herumspukt, schöne Esmeralda oder wie immer Euer Name lauten mag.« Ich hatte die Stimme erkannt und mich daran erinnert, daß der fürsorgliche Glöckner seinem Schützling die Novizinnentracht gebracht hatte. Ihr Büßerhemd war nach der Entführung so zerrissen gewesen, daß die vermeintliche Sünderin darin höchst sündig ausgesehen hatte.
»Armand!«
»Derselbe und höchst verwundert, Euch hier anzutreffen.«
»Das bin ich nicht minder.«
Als ich nur eine Armlänge vor ihr stand, sah ich deutlich das schö-
ne Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den sinnlichen Lippen, das unter dem Novizinnenschleier besonders verführerisch wirkte. La Esmeralda lächelte. »Ich nehme an, wir beide suchen dasselbe, Armand.«
Damit hatte sie gar nichts verraten. Ich entschloß mich zu mehr Of-fenheit.
»Allerdings, Hüterin des Sonnensteins. Ich komme gerade von Eurem Vater, der mich bat, Euch zu helfen. Aber Ihr scheint Quasimodos wachsamem Auge schon entkommen zu sein.«
»Ich stahl mich davon, als er die Vesperglocke läutete, wie ich es an den letzten Abenden häufig tat.«
»Um nach dem Sonnenstein zu suchen.«
Sie nickte.
»Mit Erfolg?«
Sie schüttelte den Kopf, und der schwarze Schleier bauschte sich.
»Vielleicht ist der Sonnenstein nicht mehr hier«, sagte ich. »Mag sein, er ist nie hier gewesen.«
»Doch, er ist in der Kathedrale versteckt!«
»Wie könnt Ihr das mit solcher Bestimmtheit sagen?«
»Weil ich es spüre.« Sie legte die Hände auf ihre Brust. »Hier drin.«
»Die Kraft des Sonnensteins?«
»Ja, Armand. Spürt Ihr es nicht auch?«
»Wie sollte ich?«
»Als Villons Sohn seid Ihr auf besondere Weise mit dem Stein der Sonne verbunden.«
»Das sagte man mir bereits.«
»Aber Ihr strahlt es aus. Ich spürte es eben, und erst so habe ich Euch bemerkt.«
»Wie kann ich etwas ausstrahlen, von dem ich kaum etwas weiß?«
»Ihr müßt dem Sonnenstein sehr nahe gewesen sein.«
»Dann wohl, ohne es zu merken.«
»Ist Euch bei Eurer Suche nach dem Smaragd nichts aufgefallen?«
»Nein.«
»Aber Ihr müßt dem Stein nahe gekommen sein! Anders ist Eure Ausstrahlung nicht zu erklären.« Sie trat dicht vor mich und legte ihre Hände auf mein Haupt, als wolle sie mich segnen. Langsam strich sie über meine Wangen, meine Schultern und meine Brust. »Ja, Ihr tragt die Kraft der Sonne in Euch!«
Ihre letzten Worte hörte ich nur mit halbem Ohr, weil ein anderes Geräusch meine Aufmerksamkeit beanspruchte. Schlurfende Schritte, begleitet von einem heftigen Keuchen.
Auch die Zigeunerin hörte es, erstarrte für einen Augenblick und flüsterte mir dann ins Ohr: »Er kommt, und er scheint sehr erregt.«
Ich wußte, von wem sie sprach. Der schlurfende
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