Im Schatten von Notre Dame
Gang verriet den Ankömmling.
»Ich weiß nicht, ob ich ihn in diesem Zustand besänftigen kann«, fuhr la Esmeralda fort. »Rasch, auf den Boden!«
Sie glitt an der Chorschranke hinunter in den schützenden Schatten und zog mich mit sich. Dicht aneinandergepreßt, lagen wir im Schutz der Figuren, die ein unbekannter Künstler in das Steinband der Um-schränkung gemeißelt hatte. Das Band zeigte das Leben Jesu, und wir versteckten uns unter der Szene seiner Geburt. Maria, mit der Kleidung, dem Gesicht und den Locken einer angesehenen Pariser Bürgerin, lag in einem komfortablen Bett und stützte die rechte Wange auf den angewinkelten Arm. Die linke Hand lag über dem Bauch, der das Jesuskind beherbergt hatte. Das lag hinter Maria in einer Krippe, in erhöhter Stellung, wie es sich für den Heiland geziemt. Daß Esel und Ochse noch erhöhter standen als Gottes Sohn, war eine Feinheit des Künstlers, nach deren Sinn ich vergebens forschte. Am Kopfende von Marias Bett standen die Hirten, so klein wie Kinder, am Fußende der auf einen Stock gestützte Josef.
Obschon der Heiland, seine Mutter und der heilige Josef unsere Wächter waren, stellten sich beim Näher kommen der schleppenden Schritte meine Nackenhaare auf. War es klug gewesen, hier zusammen mit der Zigeunerin in Deckung zu gehen? Ich hatte gesehen, wie Quasimodo seinen Ziehvater und Meister aus ihrer Zelle geschleudert hatte. Was würde er erst mit mir anstellen?
Ich war mir ziemlich sicher, daß der Glöckner nicht allein von Beschützerinstinkt angespornt wurde. Auch wenn der äußerliche Gegensatz zwischen la Esmeralda und ihm diesen Gedanken absurd erscheinen ließ, glaubte ich, daß eine der gefährlichsten menschlichen Regungen Quasimodo umtrieb: die Eifersucht.
Ich wollte la Esmeralda vorschlagen, daß wir uns Quasimodo zeigten. Das hielt ich für besser, als uns hier wie schuldbewusste Kinder zu verstecken, zumal wir uns nichts hatten zuschulden kommen lassen.
Eine Hand der Zigeunerin verschloss meine Lippen, noch ehe ich einen Ton sagen konnte. Mit der anderen Hand strich sie mir sanft übers Haar, wie eine Mutter es bei ihrem Kind tut. Und wahrhaftig, die Geste beruhigte mich. Fast genoß ich es, in den Armen der Schönen zu liegen, mich von ihrer Wärme und ihrem Duft umhüllen zu lassen.
Wäre da nicht Quasimodo gewesen …
Die Schritte und das laute Keuchen waren ganz nahe. Seine unförmige Körpermasse schob sich in das Licht der Kerzen, die zu Füßen des heiligen Martin brannten. Er blieb stehen und sah sich um, schien zu überlegen, wo die Suche nach der Angebeteten fortzusetzen sei. Ich betete zu Jesus, Maria und Josef, daß er nicht in den Chorumgang kommen möge.
Vielleicht hatte ich zuviel Umgang mit Ketzern gepflegt, so daß mein Gebet nicht erhört wurde. Wie ein Kinderball, der von einer Straßenseite zur anderen hüpft, huschte der Bucklige durch den Chorumgang, blickte sich nach allen Seiten um und stieß mehrmals ein leises, verstümmeltes »Esmeralda« hervor. Ich drückte mich noch enger an die unter mir Liegende, wäre am liebsten mit ihr verschmolzen. Wäre der Glöckner nicht taub gewesen, er hätte unser ängstliches Atmen unweigerlich gehört.
Zum Glück bewegte sich Quasimodo auf den Kapellenkranz an der anderen Seite des Umgangs zu und sah in jede einzelne Kapelle, bis er endlich hinter dem Altarraum verschwand. Wir lagen noch immer engumschlungen am Boden und wagten nicht, uns zu rühren. Quasimodo war außer Sichtweite, aber wir hörten ihn an der Südseite des Chors rumoren. Als er auch dort nicht fündig geworden war, befürchtete ich, er werde sich nun den Chor selbst vornehmen. Aber die Schritte entfernten sich, er schien seine Suche aufgegeben zu haben. Das letzte, das ich von ihm hörte, war ein klägliches Schluchzen.
Bis jetzt hatten die Zigeunerin und ich jede Bewegung unterdrückt und so flach geatmet, wie es nur möglich war. Als die Anspannung von uns abfiel, stießen wir unisono ein lautes Keuchen aus, als wollten wir Quasimodo nacheifern. Aber wir erhoben uns nicht, lösten unsere aneinandergepreßten Leiber nicht voneinander. Gemeinsam hatten wir die Gefahr überstanden, gemeinsam wollten wir auch die Erleichterung genießen, die sich in Lust verwandelte.
Man könnte meinen, die Novizinnentracht hätte mir jedes Begehren untersagt, doch das Gegenteil war der Fal . Vom Kopf bis zu den Fesseln verhül t, erweckte die Zigeunerin in mir den unbezähmbaren Wunsch, ihren Leib zu entblößen, das zu
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