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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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handelte.
    Im Südturm wurden im großen Umfang Ausbesserungsarbeiten durchgeführt. Von früh bis spät hörte ich die Arbeiter hämmern und sägen. Überall im Turm und auf der Galerie zwischen beiden Türmen lagen ihre Karren und Werkzeuge, Steine und Balken. Aber das war nicht der Grund dafür, daß Quasimodo nicht länger in seiner versteckten Kammer schlief. Als ich in der Nacht nach ihrer Rettung zur Esmeralda schleichen wollte, wäre ich um ein Haar über ihn gestolpert.
    Er lag quer vor dem Eingang zu ihrer Zelle und bewachte sie selbst im Schlaf. Enttäuscht kehrte ich zum Nordturm zurück. Enttäuscht, weil ich keine Verbindung zu der Verbündeten aufnehmen konnte, aber auch, weil ich mich nach ihrer anmutigen Gestalt, ihrer bronzenen Haut, den feurigen Augen und dem schwarzsamtenen Haar sehnte. Nach dem Duft der Esmeralda und ihrer zärtlichen Umarmung.
    Als Gefangene von Notre-Dame war sie für mich ebenso unerreichbar wie zuvor als Gefangene des Grand-Châtelet und der Conciergerie. Wie mochte ihr zumute sein, nur in Gesellschaft des Buckligen und ihrer Ziege? Das Tier war seiner Herrin in die Kathedrale gefolgt, und Quasimodo hatte es zu ihr gebracht, wie er ihr Speise, Trank und Kleider brachte.
    Eines Abends im Juni, als la Esmeralda schon seit über drei Wochen in der Kathedrale lebte, trat ich hinaus auf den Vorplatz, um mir ein paar Äpfel zu kaufen. Als ich am Handkarren des Obsthändlers stand, spürte ich eine Hand auf meiner Schulter und fuhr herum, weil ich be-fürchtete, ein Beutelschneider wolle sich an meiner Geldkatze vergreifen. Ein schlaksiger Mann mit blondem Haar lächelte mich an, und dabei tanzten die Furchen auf seiner Stirn. »Sieh an, sieh an, mein Nach-folger in den Diensten seiner Merkwürden Claude Frollo«, flötete Pierre Gringoire. »Euch habe ich gesucht, mein Freund.«
    »Mich, warum?«
    »Nicht nur, daß Ihr meine Arbeit fortführt, jetzt lebt Ihr auch mit meiner Gemahlin unter einem Dach. Ist es da verwunderlich, wenn ich Euch aufsuche?«
    »Ich mag zwar das Dach mit ihr teilen, aber nicht das Bett!«
    Gringoire verzog sein bleiches Gesicht zu einer unglücklichen Grimasse. »Das ergibt eine weitere Gemeinsamkeit, vielleicht sollten wir eine Bruderschaft der zölibatären Kopisten gründen.«
    »Ich dachte, Ihr seid zu den Gauklern gewechselt, Maître Gringoire.«
    »Ja, und heute abend bin ich ein Bote. Der Herzog schickt mich, Euch zu ihm zu bringen.«
    »Wozu?«
    »Könnt Ihr Euch nicht denken, daß er sich um seine Tochter sorgt?
    Glaubt Ihr, das Herz eines Zigeunervaters sei so schwarz wie die Künste, die man seinem Volk andichtet?«
    »Ich kann ihm wenig sagen.«

    »Ich noch weniger.«
    »Also gut, ich begleite Euch«, seufzte ich, um die ermüdende Dis-kussion zu beenden und auch weil ich froh war, etwas Abstand zur Kathedrale zu gewinnen. Die Fäden des Spinnennetzes ließen sich nicht zerreißen, aber sie waren dehnbar, ließen mir die Illusion der Freiheit, auch wenn Notre-Dame mich im Blickfeld ihrer unergründlichen Augen behielt.
    Der Wunderhof war vom üblichen Lärm erfüllt und hielt eine Überraschung für mich bereit. An einem wackligen Holztisch, der unter einem noch wackligeren Vordach stand, hockten ein paar fröhlich gak-kernde Kerle und droschen Karten. Einer von ihnen, ein drahtiger Blondschopf, sprang plötzlich auf und eilte uns entgegen. Es war Jehan Frollo. »Ich grüß Euch, Meister Federkiel«, rief er und grinste mir ins Gesicht. »Hat mein Bruder auch Euch in die Arme der wahren Fröhlichkeit getrieben?«
    Ich sah ihn verständnislos und wohl auch nicht besonders freundlich an. Zu gut erinnerte ich mich daran, wie er mich nach Odons Tod als vermeintlichen Mörder hatte hinstellen wollen. Außerdem wußte ich seit meiner Begegnung mit dem Druckermeister Gaspard Glaire, daß der Scholar ein Dragowit war.
    »Claude ist ein alter Knauser«, fuhr Jehan im Plauderton fort. »Er hat kein Herz für arme Scholaren, und seine Hand hält jeden Sol krampfhaft fest. Da dachte ich mir, wenn er mich schon an den Bettelstab bringt, kann ich auch gleich unter die Bettler gehen. Würfel und Karten sind gewiß nicht trügerischer als Seelenhirten, die mehr fromm denn Brüder sind. Setzt Euch nur zu uns, wenn Ihr’s erproben wollt.«
    »Ich habe etwas anderes vor«, entgegnete ich kühl, denn Jehan Frollos Anwesenheit auf dem Wunderhof war mir nicht geheuer.
    Er hatte meinen Blick zum Zigeunerlager bemerkt und kicherte: »Ah, Euer Herz ist wohl für eine

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