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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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wuß-
    ten. Selbst wenn Sita nicht den schwarzen Vogel geschaut hätte, wä-
    ren die Tochter des Ägypterherzogs und ein Kopist aus Sablé kaum ein und denselben Weg durchs Leben gegangen. Ob die Welt ihre Ananke erlebte oder nicht, Sita und mir war nichts Gemeinsames beschieden.
    Je länger ich darüber nachdachte, desto gewisser wurde ich, daß sie in der vergangenen Nacht den Mann Armand geliebt hatte, nicht den Menschen. Was unterschied mich schon von ihrem Angetrauten Pierre Gringoire außer der Umstand, daß er seine Narrheit offen zur Schau trug?
    So lagen wir, ich weiß nicht wie lange, still beieinander und teilten die beruhigende Wärme unserer Leiber, nicht aber unsere Gefühle, nicht die Gedanken. Während Sita sich von ihrem aufwühlenden Traum erholte und ihren Kopf an meiner Schulter barg, fragte ich mich immer wieder, ob ich im Chorgang wirklich sie geliebt hatte. Gewiß, es war ihr erhitzter, zitternder Leib gewesen, der meine Lust erweckte und stillte. Aber hatte ich mir nicht insgeheim gewünscht, Colette möge an ihrer Stelle sein?

    Ein Schrei ganz dicht an meinem Ohr ließ mich auffahren. »Dort am Fenster!« keuchte Sita und streckte den Arm aus.
    Ich rechnete damit, den schwarzen Todesvogel zu erblicken, und griff in meiner Verwirrung nach dem Dolch, bereit, Sita gegen den Tod selbst zu verteidigen.
    An der grauen Glasscheibe klebte ein Gesicht, wie es nur einmal entstanden sein konnte. Schiefe Züge und wulstige Verwerfungen hätten einen Unwissenden rätseln lassen, ob er Mensch oder Tier vor sich sah.
    Ich aber kannte die Fratze genau und starrte in das Auge, das gestern nacht vergeblich nach der Esmeralda gesucht hatte. Es war aufgerissen, als wolle es nach oben verschwinden, sich auf ewig unter der struppigen Braue verbergen, um den Anblick nicht länger ertragen zu müssen: die Zigeunerin in meinen Armen. Die verworfenen Züge zuckten wild und ich glaubte, in dem Auge einen feuchten Schimmer zu sehen.
    Dann war der Spuk verschwunden, und hinter dem Fenster war nichts als der Himmel von Paris.
    Den Dolch stoßbereit in der Rechten, sprang ich vom Bett und starrte die Tür an, wartete auf die schlurfenden Schritte des Buckligen. Ich war mir bewußt, daß meine Klinge gegen Quasimodos Urgewalt eine kümmerliche Waffe war. Doch war ich nicht gewillt, mir widerstandslos das Rückgrat brechen zu lassen. Es blieb still. Keine Schritte, kein Quasimodo. Endlich steckte ich den Dolch zurück in die lederne Scheide und wandte mich zu Sita um, die bekümmert dreinschaute.
    »Ich wollte nicht schreien«, sagte sie kläglich. »Aber ich bin erschrok-ken, als ich so plötzlich sein Gesicht sah.«
    »Kein Wunder, mir ist noch kein hässlicherer Anblick untergekom-men.«
    »In der Sprache meines Volkes gibt es kein Wort für hässlich.«
    »Sag es ihm, Sita, dann ist er vielleicht ein wenig beruhigt.«
    »Das werde ich«, versprach sie.

    Sita fand keine Gelegenheit, ihr Versprechen einzuhalten. Quasimodo umsorgte sie weiterhin und hätte wohl jeden Scharwächter, der versucht hätte, sie aus Notre-Dame zu zerren, in der Luft zerrissen, aber er blieb unsichtbar wie ein guter Geist. Er stellte Wein und Wasser, Brot und Käse vor ihre Tür, manchmal sogar eine klobige, mit unsicherer Hand geformte Tonvase mit frischen Blumen, aber er schien keinen Dank zu wollen, schien sich nichts weiter zu erhoffen. Er war der Liebende, dessen Herz gebrochen war und trotzdem nicht aufhörte zu schlagen, zu lieben. Aber vielleicht tue ich ihm unrecht, und es war noch mehr: wahre Treue.
    Das gab Sita und mir Gelegenheit, nach dem Sonnenstein zu suchen.
    Gemeinsam war uns nicht mehr Erfolg beschieden als mir allein, und sie sagte schließlich: »Die größte Ausstrahlung der Kraft, die ich in Notre-Dame spüre, geht von dir aus, Armand.«
    Es mußte das Erbe meines Vorfahren Amiel-Aicart sein, der den Stein auf der Flucht von Montségur getragen hatte. Aber das half uns nicht weiter.
    So vergingen Tage und Nächte in Eintönigkeit. Sie sahen Sita und mich als Suchende, aber nie wieder als Liebende. Hätte der arme Quasimodo das gewußt, vielleicht hätte es ihm geholfen. Seit die Todesah-nung sie beschlichen hatte, schien alles diesseitige Verlangen in Sita erloschen. Vielleicht lag es aber auch an mir, ließ ich sie spüren, daß ich mir Vorwürfe machte wegen Colette.
    Der Juni wich dem Juli, und ich begann mich daran zu gewöhnen, daß ein Tag war wie der andere – bis ich erneut auf Pierre Gringoire traf.

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