Im Schatten von Notre Dame
missbraucht und die Welt ausgelöscht wurde.
Vielleicht weiß der Todesvogel das und hat mich deshalb besucht.«
»Sprich doch nicht immer vom Tod …« Ich stockte. »Wir teilen unsere Lust, wir wollen gemeinsam das große Geheimnis lösen, und doch kenne ich nicht einmal deinen wahren Namen.«
»Sita.«
Ich sprach den Namen nach, und er klang wie eine fremdartige Melodie, geheimnisvoll, verzaubernd. »Was bedeutet das?«
»In der Sprache der Landes, in dem mein Volk vor vielen Menschen-altern lebte, ist es die Bezeichnung für die Furche im Erdboden, in die der Bauer seine Aussaat streut, den Beginn des Lebens. Die Alten er-zählen von einer Sita, die freiwillig auf den Scheiterhaufen stieg, um ihren Gemahl von ihrer Reinheit zu überzeugen. Und wahrhaftig, der Feuergott Agni verschonte sie. Wie die Sita aus den alten Geschichten soll auch die Esmeralda allen Anfechtungen widerstehen.«
Der Gedanke an die vergangene Nacht ließ mich erröten.
»Keine Angst, Armand, das meinte ich nicht. Im Gegenteil, mit wem sonst hätte ich mich vereinigen sollen, damit eine neue Esmeralda zur Welt kommt?«
»Damit eine neue …« Ich schluckte und trat einen Schritt zurück.
»Du meinst, du hast mich benutzt, um …«
»Um durch die Vereinigung mit dir neues Leben entstehen zu lassen.
Immerhin bin ich nicht die Jungfrau Maria. Was hast du, fühlst du dich ausgenutzt? Wenn es dich beruhigt, auch ich habe große Lust verspürt. Du solltest dich lieber geehrt fühlen, denn nicht jeder ist würdig, Vater der Esmeralda zu sein.« Eben noch hatte der Anflug eines Lächelns ihre Lippen umspielt, jetzt verdüsterte sich ihr Antlitz wieder. »Aber zu spät, der große Vogel hat seine schwarzen Schwingen über mir ausgebreitet.«
Wohl wahr, ich hätte gern noch länger den Empörten gespielt, doch Esmeraldas – Sitas – tiefer Kummer ließ keinen Platz für falschen Stolz.
Erneut legte ich die Hände auf ihre Schultern und bat sie eindringlich, mir von diesem Vogel zu erzählen.
Wir setzten uns auf das schmale Bett, und sie sagte leise, wie in Gedanken versunken: »Es war immer so, es ist so, und es wird immer so sein. Auf dem Mondberg, hoch oben, dicht bei den Gestirnen, da hausen zwei riesige Vögel, größer als jeder Mensch, der weiße und der schwarze. Beide fliegen zur Menschenwelt hinab, um den Willen des Schicksals zu vollstrecken. Wenn der weiße Vogel kommt und die Mondblume in den Schoß einer Frau legt, weiß sie, daß ihr das Glück der Fruchtbarkeit beschieden ist. Kommt aber der schwarze Vogel und verdunkelt mit seinen mächtigen Schwingen den Himmel, weiß der Mensch, daß er sich auf den Tod vorbereiten muß. Denn der schwarze Vogel wird bald zurückkehren, nur noch einmal, um ihn mit seinen scharfen Krallen zu packen und aus dem Leben zu reißen. Es war immer so, es ist so, und es wird immer so sein.«
»Und du hast den schwarzen Vogel gesehen, Sita?«
»Nachdem wir uns geliebt hatten, legte ich mich mit einem seltsamen Gefühl zum Schlafen nieder. Ich spürte, daß etwas Besonderes bevorstand, und ich war glücklich, denn nach unserer Vereinigung erwartete ich den großen weißen Vogel, die Blume der Fruchtbarkeit.
Aber dann hörte ich ein Rauschen, und etwas schlug schwer gegen die Fensterscheibe. Etwas Dunkles, eine riesige Schwinge. Der schwarze Vogel …«
»Eine Wolke wird den Nachthimmel verdunkelt haben, der Wind hat an deinem Fenster gerüttelt.«
»Du kamst bei Nacht zurück zu Notre-Dame und weißt, daß nicht eine Wolke am Himmel stand, daß der Wind so fest schlief wie der Bär zur Winterzeit.«
»Dann hast du geträumt!«
»Vielleicht habe ich das, aber es ändert nichts. Denn der Tod ist der letzte Schlaf, und der schwarze Vogel ist sein Bote.«
Mir fiel kein tröstendes Wort mehr ein. Zudem zweifelte ich, ob ein Versuch zu trösten angebracht gewesen wäre. Bei jedem anderen Menschen hätte ich das Gerede von diesem schwarzen Vogel für reinen Aber-glauben gehalten, für heidnischen Unsinn. Aber Sita, la Esmeralda, die Hüterin des Sonnensteins mit ihren geheimnisvol en Kräften, mochte Dinge schauen, die gewöhnlichen Menschen verborgen blieben.
Ich nahm sie in die Arme und zog sie an mich. So sanken wir aufs Bett und blieben engumschlungen auf der Strohmatratze liegen. Nicht in Lust vereint wie in der Nacht. Nicht wie Mann und Weib, nicht wie zwei, die einander begehren. Wir waren Fremde, deren Wege das Schicksal nur für kurze Zeit zusammengeführt hatte und die das
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