Im Schatten von Notre Dame
4
Der Weise und der Narr
Ich hatte gerade die mittägliche Kürbissuppe vertilgt und beschlossen, ein wenig den Sonnenschein auf der Turmgalerie zu genießen, bevor ich mich wieder in das Kometenbuch vertiefte. Ungeachtet der Suche nach dem Smaragd fuhr ich in der Arbeit fort, denn alle paar Tage erkundigte sich Dom Frollo nach meinen Fortschritten. Um mich zu zerstreuen, sah ich abwechselnd dem Markttreiben unten auf dem Platz und den Bauarbeitern auf dem Südturm zu, die mit der Ausbesserung des Bleidaches begonnen hatten. Ein paar arme Teufel mühten sich damit ab, schwere Rollen dünn ausgewalzten Bleis auf den Turm zu schleppen.
Da ich mich den ganzen Vormittag über mit Gringoires Aufzeichnungen beschäftigt hatte, hielt ich es zunächst für ein Trugbild, als ich seine magere Gestalt im Menschengewühl auf dem Domplatz erblickte. Ich kniff die Augen zu und schaute noch einmal genau hin. Kein Zweifel, es war der Schreiber, Dichter und Hanswurst. Sein gelb-rotes Narrenkleid ließ ihn unverkennbar aus der Menge hervorstechen.
Er führte keine Possen auf, sondern stand mit in den Nacken gelegtem Kopf neben der Bude eines Ledermachers und starrte an den Portalen der Kathedrale hinauf. Zu mir?
Es konnte nicht anders sein. Mathias oder Villon mußte eine wichtige Nachricht für mich haben. Schon einmal hatten sie Gringoire als Boten benutzt. Ich lief zum Nordturm und dort eilig die Treppe hinunter, erreichte keuchend die Kathedrale und stürmte auf das Portal der Heiligen Jungfrau zu. Jetzt erst fiel mir ein, daß meine Eile verräterisch wirken konnte, und ich verlangsamte meinen für diesen geweihten Ort unangemessen raschen Schritt. Wenn Gringoire eine wichtige Nachricht für mich hatte, würde er warten. Ein zwingender Gedanke, wie mir schien, doch als ich ins Freie trat, erkannte ich meinen Irrtum.
Um den hölzernen Klappstand des Ledermachers drängten sich Männer und Frauen, die Schuhe, Schürzen, Humpen und Flaschen in Augenschein nahmen, aber Gringoire war nicht darunter. Ich sprang die Treppe vor dem Portal hinunter, schob mich durch das Gedränge und sah mich immer wieder nach allen Seiten um, bis ich die halbho-he Mauer erreichte, die den Domplatz begrenzte. Schon wollte ich aufgeben, da erspähte ich das gelb-rote Narrengewand hinter einem Och-senkarren, der in die Rue Saint-Christophe einbog.
Gringoire ging auf die Christophoruskirche zu, und er war nicht allein. An seiner Seite sah ich eine Gestalt im dunklen Kanonikerge-wand, den Kopf von einer Kapuze verhüllt. Und doch ahnte ich, wer es war. Wenn meine Ahnung nicht trog, bot dieses Zusammentreffen Anlass zur Besorgnis.
Ich schlich den beiden nach. Sie verschwanden in der Pfarrkirche, die sich im Schatten der mächtigen Kathedrale klein und unbedeutend ausnahm. Sobald ich die Kirche betreten hatte, zog ich mich hinter eine dicke Säule zurück, bis sich meine Augen an das Halbdunkel ge-wöhnt hatten. Ein paar Betende knieten vor den Statuen der Heiligen und vor dem Altarraum. Zwei oder drei kleine Gruppen standen nahe dem Portal und sprachen über weltliche Geschäfte. Langsam durchmaß ich das Kirchenschiff, hielt mich im Schatten und versuchte zugleich, die anderen Schatten auszuspähen.
Mit Erfolg: Gringoires auffällige Bekleidung war auch im dämmrigen Kirchenlicht nicht zu übersehen. Er stand mit seinem Begleiter hinter einer Statuengruppe, die das Urteil Salomos darstellte. In der Nähe standen ein paar Holzbänke, und auf einer davon ließ ich mich mit gesenktem Haupt wie zum Gebet nieder. In Wahrheit galt meine ganze Andacht dem halblauten Wortwechsel.
Gringoire: »… diesen Simpel Clopin richtig scharfgemacht auf den Schatz von Notre-Dame. Er brennt schon darauf, ein reicher Mann zu werden und seinem Kreuzbruder die gerettete Tochter zu bringen. Na-türlich hofft Clopin, daß Mathias dafür eine Truhe Goldstücke rausrückt. In drei oder vier Tagen sind die Gauner soweit.«
Der andere: »Das ist zu spät. Morgen wird das Parlament zusammen-treten, um das Asylrecht in Notre-Dame aufzuheben. Unser Bischof ist Ratsherr im Parlament und wird der Aufhebung zustimmen.«
Gringoire: »Ein seltener Vorfal , daß die Kirche selbst ihr Asylrecht aufhebt. Steht nicht in den Psalmen, Gott sei unsere Zuflucht für und für?«
Der andere: »Das zeigt, wie ernst König Ludwig, der Bischof und das Parlament die Sache nehmen. Noch immer spricht ganz Paris von der dem Galgen entsprungenen Zigeunerin. Man befürchtet einen Auf-stand und will
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