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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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verloren. Vom Henker hat sie nichts anderes zu erwarten als von Dom Frollo. – Was habt Ihr, Armand, warum antwortet Ihr nicht?«
    Ich hörte ihn kaum und gab auch jetzt keine Antwort. Meine Gedanken kreisten um Sitas Vision, um den schwarzen Todesvogel.

Kapitel 5
    Flammen über Notre-Dame
    Nach meiner Rückkehr suchte ich Notre-Dame nach Sita ab, um sie endlich im Kirchenschiff zu finden, wo sie wie ins Gebet versunken kniete. In ihrer Novizinnentracht fühlte sie sich vor einem übermütigen Einfall der Scharwächter sicher, zumal der schwarze Schleier ihr Gesicht weitgehend verhüllte. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt und blickte zu der hohen Deckenwölbung hinauf, wo sich der Stein in Luft und die Erdenschwere des Menschen in himmlische Leichtigkeit auflösen wollte. Die Kunst der Baumeister, so hohe, kühne, fast schwebende Konstruktionen zu erschaffen, mußte göttlichen Ursprungs sein und führte jeden Gedanken zu diesem Ursprung zurück. Und doch fragte ich mich, ob die Hüterin des verlorenen Sonnensteins nicht ganz andere Überlegungen anstellte.
    Es war, als hätte sie mein Nahen gespürt. Sie senkte ihr Haupt und wandte sich zu mir um, noch bevor ich sie erreichte. Ihre Miene war ernst, erschrocken, und ich fragte nach der Ursache.
    »Ich hatte einen Traum mit offenen Augen, eine Erscheinung«, antwortete sie leise und in sich gekehrt, als hänge sie den Bildern dieser Erscheinung noch nach. »Ich sah die Kathedrale eingehüllt von Flammen, als ergösse sich ein feuriger Katarakt aus Himmelsschleusen über das Bauwerk. Und ich wurde von den züngelnden Sturzbächen aus Notre-Dame geschwemmt.«
    »Genau das kann geschehen, wenn wir nicht einen Weg finden, dich fortzuschaffen«, sagte ich und berichtete ihr, was ich gehört hatte.
    »Vielleicht sollten wir versuchen, die Kathedrale nach der Vesper ganz offen zu verlassen. Viele Augustinerinnen kommen zur Abendandacht her. Wenn du dich ihnen zugesellst, wird man dich für eine der Ihren halten.«
    »Nein«, erwiderte sie nach kurzem Überlegen.
    »Du meinst, wir können die Wachen nicht täuschen?«
    »Nein, ich will in Notre-Dame bleiben.«
    »Aber Clopin plant einen Sturm auf die Kathedrale! Das kann für dich böse enden. Die Erscheinung, oder was es war, sollte dir eine Warnung sein.«
    »Vielleicht wollte sie mich auch davor warnen, etwas Unüberlegtes zu tun.«
    »Ach? Und hier zu bleiben und auf das Verhängnis zu warten, nennst du überlegt?«
    Sita lächelte zu meiner Verwirrung und legte sanft eine Hand auf meine Schulter. »Glaub mir, Armand, ich habe es mir überlegt. In dem Tumult, den Clopins Angriff hervorrufen wird, bietet sich vielleicht eine Gelegenheit, in Frollos Allerheiligstes einzudringen.«
    »Seine Hexenküche, ja«, murmelte ich und blickte hinauf zur Dek-ke, als könne ich durch sie hindurch auf den Nordturm schauen. »Na-türlich habe ich auch schon oft daran gedacht, aber ich glaube kaum, daß der Sonnenstein sich ausgerechnet in Frollos Turmstube befindet.
    Dann wäre der Archidiakon längst darauf gestoßen.«
    »Ich bin ganz deiner Meinung, Armand. Doch wenn Frollos Zelle schon nicht den Sonnenstein beherbergt, dann vielleicht die Antwort auf ein anderes Rätsel, das ebenso wichtig ist.«
    »Du meinst die Machina Mundi, die Weltmaschine.«
    »Klug geschlossen, Armand. Der Sonnenstein allein genügt nicht, um die große Transmutation herbeizuführen. Die Dragowiten müssen seine Kraft mit der vereinen, die in der Machina Mundi wohnt. Einen Hinweis auf ihren Standort zu finden wäre ein Wagnis wert.«
    »Auch das Wagnis, ein Leben zu verlieren? Dein Leben, Sita?«
    »Ja!«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich kopfschüttelnd. »Frollos Zelle ist stets verschlossen.«

    »Das habe ich bereits festgestellt, aber ich bin recht geschickt darin, mit den einfachsten Mitteln Schlösser aufzubrechen.« Sie zog eine bronzene Haarnadel unter dem Schleier hervor und hielt sie mir unter die Nase. »Damit kriege ich beinahe jedes Schloß in kurzer Zeit auf, nur bei Frollos Zelle dauerte es lange. Zu lange. Frollo erschien, als habe ihn etwas oder jemand gewarnt, und ich mußte mich verstek-ken.«
    »Und ausgerechnet heute Abend willst du dein Glück erneut versuchen?«
    »Gerade heute Abend! Der Angriff der Gauner wird Frollo ablenken und mir ausreichend Zeit verschaffen.«
    Ich teilte ihre Ansicht nicht, hielt das, was vielleicht zu gewinnen war, für unverhältnismäßig gering im Vergleich zu dem, was es kosten konnte: Sitas Leben.

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