Im Schatten von Notre Dame
Dom Frollo mochte in seiner Hexenküche sonst was treiben. Selbst wenn er dort einen Hinweis auf die Maschine des Raimundus Lullus verbarg, hieß das nicht, daß Sita ihn entdecken konnte. Ihr Vorhaben erschien mir töricht, so als suche sie nach ihrem Traum vom schwarzen Vogel geradezu den Tod.
Während ich noch überlegte, wie ich sie umstimmen sollte, stellte sie sich plötzlich auf die Zehenspitzen und blickte über die Köpfe steinerner Dämonen hinweg zum Hauptportal. »Er ist’s, der hübsche Italiener.«
Die Worte weckten meine Eifersucht. Sie meinte Leonardo, der das Portal durchschritten hatte und sich forschend umsah. Ich trat auf den Gang und winkte ihm. Mit raschen Schritten kam er näher und sagte mit ernster Miene: »Ich komme geradewegs vom Wunderhof, von Clopin Trouillefou und Mathias Hungadi Spicali. Dem Herzog und mir ist es nicht gelungen, den Gaunerkönig umzustimmen. Clopin faselt davon, die Esmeralda zu retten, wenn ihr eigener Vater es schon nicht versuche. Seine Gaunerehre gebiete es ihm. Und seine Männer vertei-len den Kirchenschatz, bevor sie ihn überhaupt gesehen haben. Wir müssen sofort aus Notre-Dame verschwinden!«
Sita beharrte auf ihrem Entschluß und ließ sich auch von dem mit Engelszungen redenden Italiener nicht bekehren.
»Dann müßt wenigstens Ihr mich begleiten, Armand«, seufzte Leonardo schließlich. »Euer Vater würde mir niemals verzeihen, wenn Ihr den beutewütigen Gaunern zum Opfer fielet.«
»Nein, ich bleibe auch«, sagte ich zur großen Überraschung der beiden. »Ich verlasse Notre-Dame nur an Sitas Seite!«
Leonardo starrte mich eine Weile mit offenem Mund an und sagte dann: »Armand, Ihr seid ein Narr, aber ein tapferer.«
»Kann es Tapferkeit ohne Narretei geben?« fragte ich. »Der Ausspruch ist nicht übel. Falls die Sache schief geht, merkt ihn Euch für meinen Grabstein.«
Der Italiener nickte. »Ich werde Maître Villon berichten, daß er stolz sein kann auf die Dummheit seines Sohns. Möge der Vater der Guten Seelen mit Euch sein, und natürlich auch mit Euch, Sita!«
Als er die Kathedrale verließ, verblasste die Sonne und mit ihr die leuchtende Kraft der Fensterrose. Das Kirchenschiff wirkte mit einem Schlag düster, kalt und bedrohlich. Ich blickte dem Italiener nach zum Portal des Jüngsten Gerichts und fragte mich, ob ich soeben mein eigenes Urteil gesprochen hatte.
Sie kamen um Mitternacht. Das dumpfe Dröhnen ihrer Schritte schreckte mich auf, und die Schreibfeder fiel mir aus der zuckenden Hand. Meine Aufzeichnungen über das, was mir in Paris widerfahren war, versteckte ich im Bettkasten. Sie waren lückenhaft, mehr eine Skizze als ein genauer Bericht. Vieles war zu ergänzen, auszumalen, und ich wußte nicht einmal, ob ich je dazu kommen würde.
Ich trat auf die Galerie zwischen den Türmen, wo ich Sita traf. Als ich die vielhundertköpfige Menge sah, wünschte ich, ich wäre mit Leonardo gegangen. Doch nun war es zu spät. Notre-Dame wurde be-drängt von einer düsteren Masse, die aus allen Gassen und Winkeln quoll. Die Seine-Insel schien übervoll von den finsteren Gestalten, die schlurfend, scharrend und stampfend, keuchend und pfeifend auf die Ostspitze der Insel zurückten, als wollten sie allein durch die Masse ihrer Leiber die Mauern von Notre-Dame eindrücken. Eine Armee der Nacht, geboren aus der Finsternis und beschützt von ihr. Daß die Ko-lonnen, die von den Brücken zwischen Insel und Neustadt herüberka-men und sich vor Notre-Dame vereinigten, im Dunkeln marschierten, ließ sie noch unheimlicher, noch gefährlicher erscheinen.
Erst als die Gauner, die Bettler, die Beutelschneider und Diebe, die Halsabschneider und Galgenstricke Notre-Dame vollständig eingekreist hatten, flammten wie auf ein geheimes Kommando hin mehrere Fackeln auf. Fratzen, wie gerade der Hölle entstiegen, starrten zu Sita und mir herauf, als könnten sie uns hier oben im Schatten der Tür-me sehen. Bärtige und narbenzerfurchte Gesichter, pockige und to-tenblasse, zahnlose und hauerbewehrte. Blanke Gier nach Beute stand darin geschrieben, Lust an der Zerstörung, etwas Vertiertes, das der Mensch in der Masse annimmt. Die Masse zertrampelt jeden hohen Gedanken und läßt nur Raum für das, was allen gemeinsam ist: die niedersten Gefühle.
Es war eine Armee aus Männern, Frauen und Kindern, aus Greisen und Krüppeln, arm- oder beinlosen Gestalten, deren kriegerische Panzerung ihrer tatsächlichen Kampfkraft Hohn sprach. Echte Kriegswaf-fen
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