Im Schatten von Notre Dame
blitzten neben zweckentfremdeten Werkzeugen; grindige Klauen reckten Schwerter, Dolche, Äxte, Hellebarden, Lanzen und Armbrü-
ste empor, dazwischen krumme Holzknüppel, Feuerhaken, Hämmer, Meißel, Ledermesser, Sensen und Mistgabeln. Sogar die Kinder hatten sich bewaffnet, mit Geräten, die oft größer waren als sie selbst.
Über den Fratzen, Klingen und Fackeln erhob sich das wichtige Zeichen jeder Armee, ein Banner. Es war in der Tat passend gewählt: eine Heugabel, an deren Zinken ein bluttriefendes Stück Aas steckte. Im Fackellicht erkannte ich die kräftige Gestalt des Gaunerkönigs und an seiner Seite den mit Goldflitter geschmückten Anführer einer bunt ausstaffierten Hilfsarmee.
»Mein Vater!« stieß Sita erstaunt hervor. »Er … beteiligt sich an dem Angriff …«
»Vermutlich sieht er darin die einzige Möglichkeit, helfend einzugreifen«, sagte ich. »Damit hat er recht und gleichwohl kaum Aussicht auf Erfolg. Clopins Pöbel ist in der Überzahl und in einer Stimmung, in der eine Goldkrone hundert Menschenleben aufwiegt, das eines Kopisten und einer Zigeunerin allemal.«
Als der Domplatz mit den Kreaturen der Gaunerarmee randvoll war, stieg Clopin Trouillefou auf die Umfassungsmauer, um die Feldher-renansprache zu halten, die jeder Schlacht vorangeht und kühles Denken in flammende Begeisterung, Bedachtsamkeit in Raserei, mitfühlende Menschen in erbarmungslose Raubtiere verwandelt. Seine auf-peitschenden Worte hallten über den ganzen Platz und waren auch auf der Turmgalerie deutlich zu verstehen. Er rief Louis de Beaumont, den Bischof von Paris, an, dessen Palast zwischen der Kathedrale und dem linken Flussarm stand, und erklärte ihm offiziell den Krieg. Dazu glaubte Clopin sich befugt, nannte er sich selbst doch König der Gauner, Großfürst und Prinz der Ausgestoßenen, Bischof der Narren. Er schwadronierte von seiner und aller Ausgestoßenen Schwester, la Esmeralda, deren heiliges Gastrecht der Bischof durch die Aufhebung des Asyls verletze, erwähnte aber mit keinem Wort die Kirchenschät-ze, die seine Schar zu plündern hoffte. Wie alle Feldherren ihre Armeen mit der Aussicht aufs Plündern nur dann anspornen, wenn die allgemeine Verrohung durch den Krieg jeden Appell an Vaterlandslie-be, Ehre und Treue sinnlos erscheinen läßt. Zur Bekräftigung seiner Worte pflanzte Clopin sein blutiges Feldzeichen auf, indem er es feierlich in die kotige Ritze zwischen zwei Pflastersteinen steckte.
Der Bischof von Paris war entweder zu stolz oder zu klug, um sich dem feindlichen Heer zwecks einer Gegenrede zu stellen. Nicht einmal seine Wachen rückten aus, was angesichts der gegnerischen Übermacht kaum tapfer, dafür aber um so klüger war. Vermutlich hatte Louis de Beaumont entschieden, lieber die Kathedrale zu opfern und seinen Palast zu verteidigen. Häuser zur Ehre Gottes gab es schließlich zuhauf, aber den Bischof von Paris gab es nur einmal.
Auch sonst stellte sich dem Gaunerheer kein Widerstand entgegen.
Beim Aufflackern der Fackeln und während Chopins Ansprache waren hier und da in den Häusern Lichter angegangen, und einige Bürger hatten die Fenster aufgestoßen. Als sie gewahr wurden, zu welchem Feldzug sich der Abschaum von Paris hier zusammengerottet hatte, erloschen die Lichter wieder, und die Fenster wurden hastig zugeschlagen. Warum für die Kathedrale das Leben wagen? Beten konnte man auch in den Pfarrkirchen.
So konnte Clopin ungehindert seinen Befehl erteilen: »Vorwärts, Kameraden! Ans Werk, ihr Zänker!«
Ein dreißigköpfiger Stoßtrupp löste sich aus der Masse und erklomm die Stufen zum Hauptportal. Vierschrötige Kerle, die schwere Hämmer, Zangen und eiserne Brechstangen trugen. Es wäre wohl einfacher gewesen, sich an einer der kleinen Pforten zu versuchen, aber das schien der große Feldherr Clopin Trouillefou nicht zu bemerken. Vielleicht handelte er auch nach dem Grundsatz, daß ein großes Heer eine große Angriffsfläche braucht. Jedenfalls setzte unter uns ein lautes Hämmern und Kratzen ein, begleitet von Rufen und Flüchen der sich vergeblich abmühenden Zänker. Andere Gauner scharten sich um sie.
Ihre enttäuschten Gesichter zeigten, wie wenig es unter dem Spitzbo-gen des Hauptportals voranging.
Ich drehte mich zu Sita um, wollte sie fragen, ob wir nicht doch die Flucht durch eine der Seitentüren versuchen sollten, bevor die Gauner hereinströmten. Die Ägypterin war verschwunden. Ich ahnte, wohin, und wollte ihr folgen, doch ein unheimliches
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