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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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Seiten aus. Ich bekam zeitweilig kaum Luft, mußte heftig husten, und dem buckligen Meister des Infernos erging es nicht besser.
    Taumelnd näherte er sich dem Feuer, entweder vom beißenden Qualm geblendet oder in dem Bestreben, die Glut zu schüren und den Rauchausstoß zu vermindern. Plötzlich schrie er auf und drehte sich wie ein tanzender Gaukler um die eigene Achse: Seine Kleidung hatte Feuer gefangen.
    Die Flammen waren unersättlich, jetzt wollten sie sogar ihren Schöpfer fressen. Er warf sich auf einer kleinen Erhöhung hinter der Waber-lohe zu Boden und wälzte sich heulend und wimmernd hin und her.

    Ich konnte ihm nicht helfen, wurde ich doch immer noch vom heißen Blei umspült und wollte nicht so enden wie die jämmerlichen Kreaturen auf dem Vorplatz, die, mit dem erkaltenden Metall überzogen, aussahen wie die Geschöpfe eines Alchemisten, der vergeblich versucht hatte, Menschen in Statuen zu transmutieren.
    Quasimodo hatte erkannt, worin allein seine Rettung liegen konnte. Er riß sich, noch immer am Boden liegend, die brennenden Kleider vom Leib. Stück um Stück enthüllte er sein hässliches, stark behaartes, scheinbar in völliger Willkür zusammengefügtes Fleisch. Als er sich in Jacke und Hose verhedderte, zerfetzte er den Stoff mit grober Gewalt, bis er schließlich in seiner ganzen bemitleidenswerten, abstoßenden Hässlichkeit auf dem Boden lag. Aber er hatte die Flammen gelöscht, die ihn verzehren wollten. Der tiefe, urwüchsige Laut, den er darob ausstieß, konnte ein triumphaler Siegesschrei sein oder ein erleichterter Seufzer.
    Wo makellose Schönheit uns anlockt, verzaubert und uns derart in ihren Bann zieht, daß wir der Welt entrückt sind, müßte ihr Gegensatz, die vollkommene Hässlichkeit, uns abschrecken, unsere Augen wie von selbst verschließen. Aber es ist nicht so. Der Mensch starrt das Hässliche an wie das Schöne, ergötzt sich an Verunstaltung und Siech-tum wie an den vollendeten Formen und dem blühenden Leben einer drallen Maid. Vielleicht flößt der Anblick abgrundtiefer Hässlichkeit dem Menschen das Gefühl ein, weit über einer solchen Kreatur zu stehen. Vielleicht spielt auch die Neugier eine Rolle, die alles Unbekannte, und mag es noch so absonderlich daherkommen, zu erforschen trachtet. So gibt man gern einen Sol her, um auf dem Jahrmarkt die Miß-
    wüchsigen zu betrachten und die Zwerge, die man eigens zu diesem Zweck heranzüchtet.
    Und so starrte ich auf die bebenden Fleischklumpen des stoßweise atmenden Buckligen. Langsam erhob er sich, und der Schein des großen Feuers beleuchtete jeden unnatürlichen Hügel, jede Verkrümmung und den ungeschlachten Höcker, die stete Last seines armseligen Lebens. Das alles traf mich nicht so sehr wie das, was ich erspähte, als er mir den Rücken zukehrte und über die Brüstung auf den Domplatz sah. Mitten auf seinem Gesäß prangte ein seltsames Zeichen. Meine Augen erkannten es sofort, auch wenn mein Verstand sich dagegen sträubte. Ich hatte es schon einmal gesehen, als Spiegelbild auf meinem eigenen Arsch, im unterirdischen Quartier Villons – des Vaters.
    Es traf mich wie ein Faustschlag, mit solcher Wucht, daß ich mit den Armen rudern mußte, um nicht von dem Steinquader zu fallen. Wie das Feuer Quasimodos den oberen Teil des Westwerks erhellte, fühlte auch ich mich erleuchtet. Ich verstand auf einmal, weshalb Quasimodo in meinen Träumen eine so wichtige Rolle spielte. War dies ein gewaltiger Zufall, eine irrwitzige Laune des Schicksals? Oder lag dem ein Plan zugrunde, den ich nicht durchschaute, ein vorherbestimmter Ablauf im undurchschaubaren Spiel um die Ananke der Menschheit?
    Quasimodo ließ mir keine Zeit zu weiteren Überlegungen. »Sie kommen zurück!« brüllte er. »Sie klettern zu den Königen rauf. Ich muß sie aufhalten!«
    Das Blei war erkaltet, und die Gauner hatten noch immer nicht genug. Clopin trieb sie mit flammender Rede und dem Knallen seiner Peitsche an, inmitten ihrer qualvoll verendeten Kameraden den nächsten Angriff vorzutragen. Von irgendwoher hatten sie eine große Leiter geholt, die sie vor dem Hauptportal anlegten, um die Königsgalerie zu ersteigen. Von dort führte eine Tür ins Innere der Kathedrale, wie ich von meinen zahlreichen Streifzügen wußte.
    Der nackte Glöckner hüpfte eilig zur nächsten Treppe davon, und ich folgte ihm, nachdem ich mich vergewissert hatte, daß das erkalte-te, erstarrte Blei keine Gefahr mehr darstellte. Ich wollte Quasimodo sagen, daß er

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