Im Schatten von Notre Dame
Jehan ebenso entblößt war wie der Ziehsohn seines Bruders. Das Feuer auf der Turmgalerie warf seinen rötlichen Schein herunter und ließ die beiden Nackten wie zum Leben erwachte Skulpturen aussehen.
»Ihr seid wirklich viel hübscher als ich«, stieß Quasimodo hervor.
»Euer Anblick versetzt die Weiber wohl in Verzücken, meiner nur in Schrecken. Und doch habe ich die Macht, Euch mit einem Handstreich zu töten!«
Seine Rechte legte sich um Jehan Frollos Hals und schloß sich langsam zusammen. Schon bekam der Scholar kaum noch Luft, und sein Gesicht lief blau an.
Ich war aufgestanden und trat neben Quasimodo. »Haltet ein! Jehan hat Strafe verdient. Aber das wäre purer Mord.«
Quasimodo sah mich erstaunt an und ließ sein Opfer los. Jehan sackte an der Wand entlang zu Boden und blieb, nach Atem ringend, im Staub liegen.
»Wir müssen der Esmeralda helfen!« sagte der Glöckner. Auch wenn er schwer zu verstehen war, gab es am Sinn seiner Worte keinen Zweifel: Wer sich gegen die Zigeunerin stellte, war sein Feind. Das galt für die beiden Frollos und genauso für mich, obschon ich ihn eben gerettet hatte.
Ich wollte ihm klarmachen, daß sein Handeln nichts einbrachte au-
ßer einer Vielzahl von Toten. Schon rüstete sich das Gaunerheer zu einem neuen Angriff, trug Leitern und Seile zusammen und erhielt aus den umliegenden Gassen Zulauf. Es hatte sich herumgesprochen, daß Clopin Trouillefou Notre-Dame zur Plünderung freigegeben hatte, und keiner der zweibeinigen Pariser Straßenköter wollte sich die Beute entgehen lassen. Auch wenn der Glöckner es nicht einsah, er stand auf verlorenem Posten. Ich wollte verhindern, daß er am Ende selbst zu den Toten zählte, wollte den Bruder, den ich soeben gefunden hatte, nicht gleich wieder verlieren.
Bevor ich noch ein Wort herausbringen konnte, verlor ich den Boden unter den Füßen, doch meine hart aufschlagende Stirn fand ihn schnell wieder. Ein Blitz schlug in meinen Schädel; ich verspürte einen stechenden Schmerz, der alles um mich herum auszulöschen drohte.
Nur undeutlich nahm ich wahr, wie sich ein Arm um meine Brust legte und mich nach hinten zog. Etwas Hartes, Scharfes drückte gegen meine Kehle, und warme Flüssigkeit rieselte mir über Hals und Brust.
Daß es mein Blut war, erkannte ich, als ich wieder klarer denken konnte.Jehan kauerte hinter mir, hielt mich mit einem Arm umschlungen und bedrohte mich mit dem Dolch, den er in der anderen Hand hielt.
Es war eine der Waffen, die Quasimodo ihm abgenommen hatte. Jehan hatte mich überwältigt, mir die Füße weggezogen und den Dolch vom Boden aufgeklaubt. Heißer Atem strich im Rhythmus seiner Erregung über meine Wange. Erregung, die nicht nur der Todesgefahr entsprang, in der er schwebte, sondern auch der Lust, selbst den Tod zu bringen.
Ich spürte es überdeutlich. Es war eine jähe, klare Erkenntnis, wie sie uns häufig in den unerwartetsten und unpassendsten Augenblik-ken trifft. Auf einmal wußte ich, daß Jehan nicht nur der Spitzel und Agitator seines Bruders war. Zu der Sicherheit, mit der er das Messer hielt, gesellte sich das Wohlgefühl, das der Anblick meines Blutes ihm verschaffte. Ich sah ihn auf dem Wunderhof beim Kartenspiel, und ich sah die Stabzehn in Odons Mund. Ich erblickte Odon, dessen Kehle zerschnitten war wie die von Schwester Victoire.
»Ihr könnt mir nicht die Gurgel durchschneiden, Jehan«, krächzte ich mit kläglich zitternder Stimme.
»Täuscht Euch nicht, Meister Federkiel«, gackerte Jehan in mein Ohr.
»Quasimodo mag furchteinflößend sein, aber mit dem Dolch in der Hand kann ich mich seiner erwehren. Was also sollte mich hindern, in Eurem Rachen für Durchzug zu sorgen?«
»Euch fehlt die Stabzehn, um Euer Werk zu krönen.«
»Ah, Ihr seid im Bilde. Seit wann?«
»Bedauerlicherweise erst seit eben. Eins paßt zum anderen. Ihr wart nicht zufällig in der Nähe, als Odon starb – Ihr wart sein Tod. Ein ge-schulter Mann wie Falcone wäre Euch eher auf die Schliche gekommen.«
»Ihr werdet bald Gelegenheit haben, ihm Euer Lob zu übermitteln.«
Als Quasimodo langsam näher trat, erhöhte Jehan den Druck des Messers, und wieder floß Blut über meine Brust. Die angenehme Wär-me, die sich mit der klebrigen Flüssigkeit ausbreitete, war trügerisch, ließ den Tod gar nicht erschreckend erscheinen.
»Bleib stehen, Polyphem!« blaffte der Schnitter von Notre-Dame Quasimodo an. »Oder willst du, daß der Retter deines Augenlichts stirbt?«
Mit einem
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