Im Schatten von Notre Dame
nicht länger das einsame Findelkind war. Daß er eine Familie hatte, einen Vater und einen Bruder.
Quasimodo war schneller und stand schon auf der Königsgalerie, als ich atemlos dort ankam. Aber er war nicht schnell genug gewesen. Der erste Angreifer war über die Brüstung gestiegen und stand dem Glöckner gegenüber. Einen größeren Gegensatz konnte es kaum geben, der nackte Bucklige und der Schwerbewaffnete, der eine glänzende Rü-
stung trug wie ein Ritter in der Schlacht oder beim Turnierkampf. Es mußte ihn einige Mühe gekostet haben, seine eiserne Panzerung und das halbe Waffenarsenal, das er mit sich herumtrug, die Leiter hinauf-zuwuchten. In der Rechten hielt er eine Armbrust.
Der Glöckner sprang zur Leiter, als sich der struppige Kopf eines Gauners über die Brüstung schob. Die Galerie lag, die Freitreppe nicht mitgerechnet, sechzig Fuß hoch. Und auf dieser ganzen Länge war die Leiter mit bewaffneten Angreifern besetzt, einer wehrhaften Schlange gleich, die unaufhaltsam in die Höhe kroch.
Doch Quasimodo hielt sie auf. Ehe der Gauner mit dem struppigen Haar über die Brüstung klettern konnte, packte der Bucklige ihn an den Schultern und stieß ihn in die Tiefe. Er fiel mit ausgebreiteten Armen – ein Vogel, dessen Flügel versagten – in die dichte Menschentraube am Fuß der Leiter.
Gleich darauf ergriff Quasimodo die oberen Spitzen der Leiter und schüttelte sie heftig, so daß ein Angreifer nach dem anderen den unfreiwil igen Sturzflug antrat. Den Gaunern schien kein Glück beschieden.
Erst regnete es Steine, dann flüssiges Blei und jetzt Sterbende, die kreischend zwischen ihre Kameraden klatschten. Die weggestoßene Leiter stand für lange Augenblicke aufrecht, als könne sie sich nicht entscheiden. Endlich kippte sie nach hinten und schlug auf den Vorplatz, wo ihre Sprossen zerbrachen wie zuvor die Knochen der Gestürzten.
Mit einem triumphierenden Aufschrei wandte sich Quasimodo dem Mann in der Ritterrüstung zu. Da klappte der Eiserne das Visier hoch und enthüllte glatte Züge, die eher zu einem Knappen als zu einem Ritter passten.
»Du willst dich doch nicht an mir vergreifen, mein ungeschlachtes Brüderchen«, rief Jehan Frollo de Molendino. »Das würde mein großer Bruder Claude gar nicht gern sehen!«
Tatsächlich hielt Quasimodo inne und blieb, unschlüssig wankend, vor dem verräterischen Scholaren stehen. Jehan gehörte zur Armee der Gauner und war aus Quasimodos Sicht ein Feind, aber als Bruder Dom Claudes umgab ihn eine Aura der Unantastbarkeit.
»Hui, wie hässlich du bist!« entfuhr es Jehan. »Ohne Kleider sieht man’s erst richtig. Der Schöpfer muß grad nicht hingeschaut haben, als er dich zusammenwurschtelte. Wie kannst du nur deinen eigenen Anblick ertragen? Hast ganz recht, daß du mit deinem einzigen, traurigen Auge so bedröppelt glotzt. Es wird eine gute Tat sein, dich von dem Auge und damit von deinem eigenen Anblick zu erlösen, alter Zyklop!«
Der Bucklige starrte ihn unverwandt an. Er schien Jehans Worte zu verstehen, zumindest ihren Sinn. Auf seinem Gesicht mischte sich Trauer mit Wut.
Mit seinem typischen meckernden Lachen spannte der Scholar die Armbrust und zielte auf Quasimodos Kopf. Nur ein Gedanke beherrschte mich: Ich mußte die Schandtat verhindern!
Ich löste mich aus den Schatten, die mich bislang vor den beiden verborgen hatten, und warf mich auf Jehan, wollte ihm die Waffe entrei-
ßen. Da sirrte der kurze gefiederte Pfeil auch schon davon. Immerhin hatte ich ihn aus der ursprünglichen Bahn gebracht, so daß er nicht Quasimodos Auge traf, dafür aber seinen linken Arm.
Der Glöckner stand völlig unbeindruckt, gab keinen Schmerzens-laut von sich, verzog nicht einmal das Gesicht. Das sah ich aus den Augenwinkeln, während ich mit Jehan zu Boden stürzte. Mit der rechten Hand zog Quasimodo den Pfeil aus seinem Fleisch, zerbrach ihn auf dem Knie und ließ das Holz achtlos zu Boden fallen. Er trat auf uns zu, riß Jehan hoch und warf ihn mit solcher Gewalt gegen die Mauer, daß der Harnisch erbost knirschte und der Jüngling ein lautes Stöhnen ausstieß.
»Seid Ihr nackt ein schönerer Anblick, Jehan?« grunzte Quasimodo, der die Arme des Scholaren mit einer seiner riesigen Hände festhielt.
Die andere Hand machte sich an die Beantwortung der Frage, indem sie Jehan Stock für Stück von Rüstung und Waffen befreite. Der Bucklige rupfte den anderen wie ein Huhn und schleuderte erst das Eisen, dann die Kleidung durch die Galerie, bis
Weitere Kostenlose Bücher