Im Schatten von Notre Dame
wütenden Knurren hielt der Glöckner inne. Ob er Jehans Worte verstanden hatte oder nicht, die Lage war eindeutig. Wie er so mit vorgeneigtem Oberkörper und pendelnden Armen dastand, mutete Quasimodo an wie ein Affe, der auf die Befehle seines menschlichen Meisters wartet. Er vermochte mir nicht zu helfen. Was er auch unternahm, jede Bewegung, die Jehan missfiel, konnte meinen Tod zur Folge haben. Alles lag bei mir.
Ich nahm meine ganze Kraft zusammen und stieß beide Ellbogen nach hinten, tief in Jehans Fleisch. Pfeifend wich die Luft aus seinem Leib. Der Druck der Dolchklinge wurde schwächer. Ich packte den Arm, mit dem er die Waffe hielt, mit beiden Händen und drehte ihn in entgegengesetzte Richtung. Für Jehan mußte es sich anfühlen, als würden tausend Nadeln in seinen Arm gestoßen. Er schrie und ließ den Dolch fallen.
Wie ein niederstürzender Falke kam Quasimodo über uns, klaubte Jehan vom Boden und stemmte ihn mit beiden Armen in die Luft. So trat er an die Brüstung, wo er Jehan mit einer Hand an den Fußgelenken packte und über dem Abgrund herumwirbelte, als wolle er sich als David mit der Schleuder versuchen. Sein Geschoß war Jehan, der nicht einmal zum Schreien kam.
Ich griff nicht ein. Seit ich wußte, daß er der Schnitter war, konnte ich für Joannes von der Mühle kein Mitleid mehr empfinden. Auch nicht, als Quasimodo ihn losließ. Ich hörte ein trockenes Geräusch, das Bersten eines Schädels, einen dumpfen Aufprall und einen viel-hundertfachen Aufschrei unten vom Domplatz.
Schwankend kam ich auf die Füße, lehnte mich gegen die Brüstung und sah hinunter. Jehans Körper lag zerschmettert zwischen Himmel und Erde auf einem Vorsprung des Mauerwerks. Quasimodo und die achtundzwanzig steinernen Könige sahen zu ihm hinab, mitleidlos, wie es die Art der Herrscher ist. Die starren Augen der ehernen Köni-ge nahmen alles zur Kenntnis und erschraken nie.
Quasimodo aber erschrak und ich mit ihm. Was sich an der Haupt-fassade abspielte, war ein Alptraum, der Notre-Dame keine Hoffnung ließ. Die Gauner kletterten in Scharen zur Galerie hinauf, mit neuen Leitern, mit Strickleitern oder einfach mit Seilen, die an den Skulpturen befestigt waren. Viele benutzten auch nur Hände und Füße, um an den Ausschmückungen des Mauerwerks emporzusteigen. Gier auf Beute und Blutdurst trieben sie voran, verzerrten ihre Gesichter zu gei-fernden Höllenfratzen. Schwer zu sagen, wer hässlicher war, die amei-senhaft heraufkrabbelnden Gauner oder die Steinfiguren, an denen sie emporstiegen. Letztere, die Dämonen von Notre-Dame, hatten ihre Kathedrale verraten und sich mit den nächtlichen Dämonen da drau-
ßen verbündet.
»Wir müssen hier weg, ehe sie die Galerie erreichen!« rief ich Quasimodo zu.
Er hörte nicht auf mich, wohl nicht nur wegen seiner Taubheit. Mit schreckgeweitetem Auge sank er auf die Knie, faltete die Hände und begann zu beten. Das Haupt hatte er zu der Figurengruppe erhoben, die oberhalb der Königsgalerie vor der Fensterrose stand: die Gottes-mutter mit dem Jesusknaben auf dem Arm, flankiert von zwei Engeln.
Er flehte die heilige Jungfrau Maria an, so inbrünstig, daß er nichts anderes mehr wahrnahm. Ich ergriff seinen Arm, wollte ihn von der Galerie zerren, doch er stieß mich gewaltsam weg. Mein Kopf prallte gegen eine Mauer, was einen weiteren schmerzhaften Blitz auslöste.
So schrecklich es schien, im Augenblick konnte ich nichts für Quasimodo tun. Ich mußte Sita finden, sie warnen. Vielleicht gelang es ihr, den Glöckner aus seiner ebenso frommen wie lebensgefährlichen Erstarrung zu befreien.
Ich ahnte, wo ich Sita suchen mußte. Vielleicht hätte ich es schon eher tun sollen, aber die sich überschlagenden Ereignisse hatten mich in ihren Bann gezogen. Jetzt hastete ich zum Nordturm, die Treppe hinauf und weiter zu Dom Frollos Hexenküche. Die Tür stand offen, meine Ahnung schien sich zu bewahrheiten. Als ich vorsichtig eintrat, atmete ich die strenge Luft unzähliger Experimente. Die Zelle war leer. Ein umgestürzter Stuhl, ein auf dem Boden liegendes Buch und drumher-um einige zersprungene Gläser zeugten von einem Kampf.
»Sita!«
Von Sorge um sie erfüllt, stieß ich ihren Namen halb unbewußt aus.
Daher erstaunte es mich, als jemand antwortete: »Armand, hilf …«
Das war ihre Stimme, gedämpft zwar, aber unverkennbar. Daß Sita mitten im Satz abbrach, konnte nichts Gutes bedeuten. Ich lief aus der Zelle und blickte mich um, sah jedoch nichts als Schatten.
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