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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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Lumpenpack die Kathedrale stürmen!« – »Zigeuner sind Streuner, und ihren Frauen kann man nicht trauen!« – »Knüpft das Hexenweib auf, damit ihr Bann von uns genommen wird!«
    Ich stieß und schob mich durch die Menge, bis ich dicht vor dem steinernen Galgengerüst stand, das von einer ganzen Schar Bewaffneter zu Fuß und zu Pferd abgeriegelt wurde. Mehrere Soldaten mit dem königlichen Wappen schleppten eine Leiter herbei und stellten sie vor dem Galgen auf. Andere bewachten Sita, die still und starr neben dem Gerüst stand. Ihr Gesicht, nicht länger unter dem Schleier verborgen, war bleich und teilnahmslos. Ohne jegliche Hoffnung. Dunkle Haarsträhnen fielen über Stirn, Augen und Wangen, zuckten im Fak-kelschein wie Schlangen, die nach Sitas Blut gierten. Dom Frollo und Gringoire waren nirgends zu sehen.
    Was sich ereignet hatte, konnte ich nur vermuten. Es gab zwei Möglichkeiten. Entweder hatte Claude Frollo seine Gefangene den Soldaten ausgeliefert, um seine Hände nicht mit ihrem Blut zu beflecken, oder die Bewaffneten hatten ihn und Gringoire überrascht und sich der Zigeunerin bemächtigt.
    Ihr Anführer war kein Geringerer als Tristan l’Hermite, des Königs Generalprofos. Er saß auf einem kräftigen Braunen und erteilte mit scharfer Stimme die Befehle. Selbst jetzt, da er ganz Herr der Lage war, hielt er den Blick gesenkt. Es schien, als fürchte er den Tod, den er brachte. Oder war ihm das Sterben gleichgültig, solange es nicht ihn selbst betraf? Hielt er den Tod gar für die Erlösung der Seele? Sah ich vor mir den Großmeister der Dragowiten?
    Auf seinen Wink packte der Henker Sita und zog sie zu der Leiter, über der die Hanfschlinge im Wind schaukelte. Ich stürzte vor und rief Sitas Namen. Ihr in weite Ferne gerichteter Blick belebte sich, suchte die Menge ab, blieb an mir hängen. Ihre Lippen öffneten sich, und sie schrie: »Djaaaliii!«
    War sie in ihrer Todesangst irre geworden? Wie anders war zu erklä-
    ren, daß sie mich mit dem Namen ihrer Ziege ansprach? Noch dazu, wo von dem Tier weit und breit nichts zu sehen war!
    Ich wollte zum Generalprofos laufen und ihn um Schonung für die Gefangene bitten. Ihr Geist war offenkundig verwirrt. Sie gehörte in ein Hospital, nicht an den Galgen. Das war der einzige Weg, Sitas Leben zu retten!
    Ein Lanzenreiter, der in mir nur einen vorlauten Schaulustigen sah, drängte seinen Gaul zwischen mich und Tristan und trat mit dem Stiefelabsatz gegen meine Stirn. Der dritte Schlag in dieser Nacht und vielleicht der härteste. Mein Kopf explodierte. Übelkeit ergriff mich und riß mich in einen schwindelerregenden Strudel hunderter bunter Farben, an dessen Ende mich tiefe Schwärze einhüllte, ein finsterer Schlund ohne Licht und Geräusche, ohne Leben.

Kapitel 6
    Totengeläut
    Ein scharfer Schmerz in meiner linken Hand entriss mich der Be-täubung. Ich fühlte mich elend, matt, schwindlig und sah die Welt hinter einem Dämmerschleier, als ich mich endlich entschloß, die Augen zu öffnen. Wieder stach etwas in meine Hand. Ich zog sie weg, hörte lautes Gekreische und ein hektisches Flattern. Ein Windstoß zog über mein Gesicht, und ein schwarzer Vogel stieg über mir empor.
    Ich sah näher hin und erkannte, daß es nur eine Rabenkrähe war.
    Sie flog in den Himmel, wo die verblassenden Sterne einen letzten aus-sichtslosen Kampf gegen das herankriechende Tageslicht führten. Die Morgendämmerung hüllte mit ihrem unwirklichen Traumlicht alles in einen Schleier. Gegen etwas Hartes gelehnt, lag ich auf dem Rücken.
    Ich hob meine Linke und sah eine blutende Wunde auf dem Handrük-ken, zerfasertes Fleisch, an dem die Krähe sich hatte gütlich tun wollen. Als sei ich ein Stück Aas. Am Himmel kreiste ein ganzer Krähen-schwarm, offenbar in der Hoffnung auf reichliche Beute. Darunter lag ein großer freier Platz inmitten des Pariser Häusergewirrs: die Grève.
    Allmählich kehrte meine Erinnerung zurück. Trotz der Schmerzen, die meinen Kopf bei jeder Bewegung durchschnitten, zog ich mich in eine sitzende Stellung und blickte mich um. Noch waren weder die Händler und Arbeiter noch jene Unglücklichen, die vergeblich um Arbeit und Brot anstanden, auf dem Platz erschienen. Und doch hielten sich ein paar Menschen hier auf, Bewaffnete in Uniformen, Soldaten des Königs, die lässig und müde an einem Steinsockel lehnten, um ein bizarres Schauspiel zu bewachen.

    Die frische Morgenbrise versetzte die lebensgroße Puppe über ihren Köpfen in ein leichtes

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