Im Schatten von Notre Dame
Die Dunkelheit schwächt die Augen, aber sie schärft das Gehör. Ich vernahm ein Geräusch auf der Treppe und setzte mich schleunigst in Bewegung.
Schwere Schritte hasteten unter mir die Wendeltreppe hinab. Ich sprang hinterher, sah aber erst unten, wen ich verfolgte: Dom Claude Frollo und Pierre Gringoire. Sie schleppten jemanden mit sich, über dessen Kopf ein Tuch gezogen war. Gleichwohl erkannte ich Sitas schlanke Gestalt. Das Tuch, das ihr Gesicht bedeckte, war der schwarze Novizinnenschleier. Die beiden Männer hasteten durch das nördliche Seitenschiff, ihre Gefangene zwischen sich. Einmal stolperte Gringoire über ein weißes Knäuel. Es war Djali, die ihrer Herrin auch jetzt noch folgte.
Ich hatte die Vierung noch nicht erreicht, da verschwanden die anderen auf der Höhe der Roten Pforte aus meinem Blickfeld. Vielleicht war das Tor zum Klosterhof offen. Oder, was noch wahrscheinlicher war, Dom Frollo besaß einen Schlüssel.
Das Tor stand tatsächlich sperrangelweit auf, als ich es erreichte. Und keine Gauner drangen in die Kathedrale ein? Als ich auf den Klosterhof trat, hörte ich lauten Kampflärm, Arkebusenschüsse und Fanfa-renstöße. Also hatten die Truppen des Königs in die Schlacht um Notre-Dame eingegriffen. Dann würden Clopin und die Seinen vollauf damit beschäftigt sein, ihre Haut zu retten. Der berauschende Traum von Notre-Dames Schätzen war ausgeträumt.
Als ich mich in dem düsteren, verlassenen Klosterhof umsah, entdeckte ich eine kleine Mauerpforte, die eine Handbreit aufklaffte. Sie konnte erst kürzlich geöffnet worden sein. Gewiß hatten die frommen Brüder die Pforte verschlossen, als die Gaunerarmee gen Notre-Dame marschierte. Ich lief durch das Tor hinaus auf das sumpfige Ödland, das die Ostspitze der Insel bedeckte. Und ich sah ein Boot ablegen, in dem sich Dom Frollo, Gringoire, Sita und die Ziege Djali befanden.
Sitas Gesicht war noch immer mit dem Schleier verhüllt, aber sie schien bei Bewußtsein, hielt ihre Ziege an sich gepresst. Frollo hatte die Riemen ergriffen und ruderte mit machtvollen Schlägen auf den Fluss hinaus, der Neustadt entgegen. Der Kahn wurde zum bloßen Schatten auf der nächtlichen Seine, während ich vergeblich nach einem zweiten Boot suchte.
Es gab nur einen Weg, die Entführer und ihr Opfer zu verfolgen, und ich beschloß, ihn zu gehen, wie aussichtslos es auch erscheinen mochte. Durch das Eingreifen der Soldaten war Quasimodo vor der Rache der Gauner gerettet und bedurfte meiner Hilfe nicht. Also lief ich am Klosterbezirk entlang zur Notre-Dame-Brücke. Ich wollte zur Neustadt, so gering die Wahrscheinlichkeit auch war, daß ich dort eine Spur von Sita fand.
Vor der Kathedrale geriet ich in ein blutiges Gemetzel. Lanzenreiter fuhren unter die Gauner und spießten sie auf. Königliche Schützen hatten sich in den Laubengängen der umstehenden Häuser postiert, um immer wieder todbringendes Blei und Pfeile in Clopins schrumpfende Streitmacht zu schleudern. Auf der Turmgalerie flackerte wild das von Quasimodo entzündete Feuer, als freue sich die Hölle über die unzähligen Neuzugänge dieser Nacht. Über allem entlud sich ein ohrenbetäubendes Gewitter aus Detonationen, Hornsignalen, Befehlen, Hufgetrappel und einem vielhundertstimmigen Todesschrei.
Ein Reitertrupp preschte mir über die Brücke entgegen und brachte den Soldaten vor Notre-Dame Verstärkung. Ich drängte mich in den Schatten der Häuser und erreichte unbehelligt das rechte Seine-Ufer, wo ich flussaufwärts lief. Mein Kopf schmerzte von der rohen Behandlung auf der Königsgalerie, und vergeblich suchte ich nach einem Grund für Sitas Entführung. Hatte Frollo sie verschleppt, weil sie in seine Hexenküche eingedrungen war, sein Geheimnis ergründet hatte? Aber dann hätte er sie doch einfach töten können! Benötigte er sie als Geisel, um den Zigeunerherzog gefügig zu machen?
Ein Menschenauflauf auf dem Grève-Platz riß mich aus den Gedanken. Die Menge drängte sich um den Galgen zusammen, was mir einen gehörigen Schreck einjagte. Eine Hinrichtung mitten in der Nacht war höchst ungewöhnlich und gewiß kein Zufall. Mein Puls ging schneller, ich begann zu rennen.
Und dann hörte ich die Rufe: »Hängt die Hexe! Befreit uns von der Zigeunerin!« Des Volkes Stimmung war umgekippt, so leicht wie zuvor die von Quasimodo weggestoßene Leiter, und sie verlangte nach Blut, nach dem Blut von Sita! Das Geschrei war eindeutig: »Die Hexe hat alle verzaubert. Ihretwegen will das
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