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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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dürft ihr sie nicht. Wenn Tristan das hört, läßt er uns aufknüpfen. Aber man könnte sie in die Gewölbe von Montfaucon bringen, wie man es mit anderen Gehenkten tut. Ich denke, das war vertretbar. Am besten morgen nacht, dann haben sich alle an der Toten satt gesehen.«
    »Dann nach Montfaucon«, seufzte Mathias und überreichte dem Sergeanten ein pralles Ledersäckchen. Sofort gaben die Soldaten ihre drohende Haltung auf und stürzten sich auf ihren Anführer. Kaum hatte der Sergeant den Beutel geöffnet, waren die Goldkronen auch schon verteilt.
    Ich ging zu Mathias und fragte: »Wollt Ihr Eure Tochter wirklich am Galgen hängen lassen?«
    Das wilde Feuer in seinen Augen, das eben noch erkaltet schien, entflammte aufs neue. Er packte mich hart an den Armen, fletschte die gelben Zähne wie ein tollwütiger Hund und zischte: »Ihr hättet Euch um sie kümmern sollen, als sie noch lebte, Gadscho! Ihr wart mit Sita in Notre-Dame. Warum habt Ihr sie nicht beschützt?«
    »Aus demselben Grund, aus dem auch Ihr versagt habt. Wart Ihr mit Euren Männern in der Nacht etwa nicht vor Notre-Dame?«
    »Ja, aber …«
    »Und konntet Ihr verhindern, daß Dom Frollo und Gringoire Sita verschleppten?«
    »Das wußte ich nicht«, sagte er leise und ließ von mir ab.
    Die Soldaten linsten mißtrauisch zu uns herüber. Mathias zog mich in die Schatten der Gerberstraße, wo ich ihm das traurige Abenteuer der letzten Nacht berichtete.
    »Wie Sita in Tristans Hände gelangt ist, weiß ich nicht«, schloß ich.

    »Und ich kann auch nicht sagen, was sie in Frollos Hexenküche gefunden hat.«
    »Aber sie lebte noch, als Ihr auf den Grève-Platz ranntet! Hat sie nichts zu Euch gesagt?«
    »Sie war verwirrt, sah mich an und rief dann nach ihrer Ziege.«
    »Nach Djali?«
    »Ja, Herzog, sie schrie Djalis Namen in die Nacht. Die Ziege war mit ihr im Boot, aber auf dem Grève-Platz sah ich sie nicht.«
    Mathias wandte mir abrupt den Rücken zu und sprach in der Zigeunersprache zu seinem Volk. An der hastigen und dennoch klaren Sprechweise erkannte ich, daß er einen Befehl erteilte. Und ich hörte zweimal den Namen Djali. Die Männer und Frauen stürzten davon, verteilten sich in den umliegenden Gassen, huschten über den Grève-Platz, verschmolzen mit den letzten Schatten der Nacht.
    »Ihr habt ihnen befohlen, nach Djali zu suchen, nicht wahr?«
    »Ja«, sagte Mathias. »Sita war auf ihren Tod vorbereitet. Ihr Geist war gewiß nicht umnachtet, als sie zum Galgen geführt wurde. Wenn sie Euch ansah und dabei Djalis Namen schrie, kann das nur eine Botschaft an Euch gewesen sein.«
    »Aber was soll die verdammte Ziege uns nützen?«
    »Wenn wir Djali finden, falls wir sie finden, werden wir es wissen.
    Ihr solltet nach Notre-Dame zurückkehren. Vielleicht entdeckt Ihr dort einen Hinweis. Auch wenn Tristans Männer kaum einen Stein auf dem anderen gelassen haben.«
    »Wovon sprecht Ihr, Herzog?«
    »Nachdem Clopins Armee vertrieben war, haben die Soldaten in Notre-Dame gewütet, wie es die Gauner kaum schlimmer vermocht hätten. Angeblich suchten sie nach Sitas Zaubermitteln. Aber vielleicht wollte Tristan l’Hermite etwas ganz anderes finden …«
    Mathias blieb im Eingang der Gerbergasse stehen, sah zum Galgengerüst und nahm Abschied von seiner Tochter. Ich verließ den Grève-Platz mit widerstreitenden Gefühlen. Eine kurze, aber heftige Leidenschaft hatte mich mit Sita verbunden, und ich hatte mich als ihr Beschützer gefühlt. Daß ich dabei versagt hatte, schmerzte. So wie es schmerzte, Sita am Galgen zurückzulassen. Und zugleich war ich froh, den Anblick nicht länger ertragen zu müssen.
    Ich hielt auf die Notre-Dame-Brücke zu, blieb aber vor dem Brük-kenkopf am Ufer stehen und starrte auf die Seine, die im erstarken-den Morgenlicht silbriggrau schimmerte. Dunkle Gebilde, die von der Strömung unter der Brücke hindurch und weiter nach Westen getragen wurden, weckten Erinnerungen an meine Kindheit. Die Holzfäller von Sablé hatten die gefällten Stämme in die Sarthe gerollt, und der Fluss hatte sie bis zur Sägemühle mitgenommen. Einmal hatte ich einen schwimmenden Stamm erklommen, war fast den ganzen Weg auf ihm geritten und hatte mir vorgestellt, ich sei ein Ritter auf seinem Streitross. Daß dieser Ritter vollkommen durchnäßt zur Abtei zurückkehrte, hatten die frommen Brüder nicht ersprießlich gefunden, und sie hatten ihm ein paar Dutzend Vaterunser und Avemaria sowie einen Monat nächtliches Kellerfegen

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