Im Schatten von Notre Dame
und schreite über die Brük-ke des reinen Gewissens in das große reiche Land, in dem du alles fin-dest, was du begehrst. Trinke aus den Flüssen der sauren und süßen Milch, labe dich an den Speisen der Seele. Auf daß sie noch reiner werde bis zum nächsten Leben.«
Als wir ins Freie traten, suchte ich nach Worten, um Mathias meine Trauer zu bekunden, doch ich brachte nur ein hilfloses, klägliches Stammeln hervor.
Der Herzog sah mich mit einem tiefen Lächeln an und sagte: »Der Mensch ist lebendige Erde, die auf toter Erde wandelt. Wir alle sind Tote, nur wissen wir nicht, wann wer wo begraben wird.«
Colette blieb verschwunden, ebenso wie Dom Frollo und Pierre Gringoire. Wie Quasimodo. Und wie der Sonnenstein.
Man munkelte in Paris, Claude Frollo sei beim Sturm auf Notre-Dame zu Tode gekommen. Der Dämon Quasimodo, der dem Archidiakon lange Zeit dienstbar gewesen sei, habe sich in jener unheiligen Nacht dessen Seele geholt und sei mit ihr zur Hölle gefahren. Die Leute sind nicht zufrieden, wenn sie nicht schwatzen können.
Ich blieb bei den Katharern. Es war meine Schuld, wenn der Sonnenstein den Dragowiten in die Hände fiel. Deshalb wollte ich alles in meiner Macht Stehende tun, um das Verhängnis abzuwenden.
Zunächst aber half ich Villons Leuten, ihr Versteck im Tempelbezirk zu räumen. Nach Colettes Verrat war es nicht länger sicher. Vieles wurde zerstört, anderes weggeschafft, die wichtigsten Zugänge verschütteten wir. Zum Abbau der Denkmaschine fehlte die Zeit, also wurde sie zu Klump gehauen. Vielleicht das Beste, was man mit einem solchen Teufelsding tun konnte.
Wir tauchten in den alten Quartieren der Muschelbrüder unter. Villon, die Italiener und ich fanden eine Bleibe auf dem Hinterhof der Dicken Margot. Als wir zwei Abende vor dem Beginn des Jahrmarkts in einer Hinterstube der Schenke mit der Wirtin zusammensaßen, sagte sie: »Ich kann nicht glauben, daß die Kleine eine Verräterin ist.
Sie hat ein gutes Herz.«
»Daß sie mit dem Smaragd verschwunden ist, spricht für sich«, erwiderte Villon. »Sie mag ein gutes Herz haben, aber gerade das hat sie zu ihrem fatalen Entschluß verleitet. Um ihren Vater zu retten, opfert sie die Menschheit.«
Ich beteiligte mich nicht an dem Gespräch. Wer hätte verstanden, daß ich fast froh war über Colettes Verrat? Wenn ihre Gefühle stärker waren als ihre Treue zu den Katharern, war für mich – für uns beide –
vielleicht noch nicht alles verloren. Ihr Gelübde der Keuschheit war eine Kette mit morschen Gliedern, die von zwei füreinander schlagenden Herzen gesprengt werden konnte.
Natürlich wußte ich, daß ich mich an einen Strohhalm klammerte. Aber so ist des Menschen Herz. Es hängt selbst dann an seinem kleinen Glück, wenn über der ganzen Menschheit das Verhängnis schwebt.
Kapitel 3
Das Geheimnis von
Saint-Germain
Leonardo und seine beiden Gefährten waren zweifellos verrückt, Fran-
çois Villon ebenso. Und natürlich auch ich, der ich mich auf ihre Nar-reteien einließ. Der Gedanke brannte sich mit der heißen Kraft der Mittagssonne in meinem Schädel fest, während wir über die Wiesen rund um die Abtei Saint-Germain-des-Prés zogen.
Seit dem Morgen, an dem der Jahrmarkt, der eigentlich ein Halb-jahresmarkt war, begonnen hatte, waren wir unterwegs, eine seltsame Truppe von Gauklern und Sachern. Leonardo spielte auf seiner silbernen Pferdekopflaute, und Atalante sang dazu – hingebungsvoll und mit guter, klarer Stimme – italienische Weisen. Villon, Tommaso und ich schleppten an ledernen Riemen überschwere Bauchläden vor uns her und verkauften billige Messer, Scheren, Feilen und Ohrenlöffel.
Mein Vater allerdings gab nur vor, seine Waren feilzubieten. Er hielt sich immer in der Mitte unserer Gruppe, ließ sich von uns anderen ab-schirmen und beobachtete das absonderliche Gerät, das Leonardo ent-worfen und mit Tommasos Hilfe gebaut hatte.
In Villons Bauchkasten war ein dünnes Metallrohr verankert, das erzittern sollte, sobald wir in die Nähe der Weltmaschine gelangten.
Die Begründung hatte ich nicht recht verstanden, und es schien mir mehr mit Zauberei als mit den Wissenschaften zusammenzuhängen, auch wenn Leonardo das Gegenteil behauptete.
Im übrigen sollte es meine Schuld sein, daß Leonardo und Tommaso nur drei dieser Zitterstangen, wie wir sie nannten, hatten bauen können. Die Herstellung war nicht einfach, und seit wir das Versteck im Tempelbezirk geräumt hatten, waren die Italiener der
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